Luise und Leopold. Michael van Orsouw

Luise und Leopold - Michael van Orsouw


Скачать книгу
an und begleitet sie am düsteren Sonntagmorgen des 6. Februar 1903 auf dem Weg dorthin, ebenso wie ihre Anwälte, Adrien Lachenal und Felix Zehme, sowie der renommierte Chef der Genfer Frauenklinik, Dr. Alcide Jentzer. Als der Tross um 9.15 Uhr in Nyon eintrifft, steht ein nicht minder ehrwürdiges Empfangskomitee bereit, nämlich Direktor Prof. Dr. Johannes Martin zusammen mit dem Psychiater Prof. Dr. Auguste Forel, ergänzt um eine Pflegerin. Luise meint, es handle sich bei der «Metairie» um ein gewöhnliches Erholungsheim.

      Wie ein Hotel.

      Vielleicht etwas abgeschotteter.

      Doch es ist eine psychiatrische Anstalt.

      Damals unverblümt «Irrenhaus» genannt.

      Und Forel gilt als einer der bekanntesten Psychiater der damaligen Schweiz, er leitete zuvor die Psychiatrische Klinik Zürich, das «Burghölzli». Er soll die gefallene Prinzessin eingehend untersuchen.

      Zuerst muss Luise die Freiwilligkeit des Eintritts schriftlich beeiden. Ihr persönlicher Rechtsanwalt Lachenal hat ein spezielles Dokument vorbereitet; darin steht, dass Luise nicht nur freiwillig gekommen und eingetreten sei, sondern auch jederzeit die «Metairie» wieder verlassen könne, wenn sie dies wünsche.

      Luise unterzeichnet schliesslich das massgeschneiderte Schreiben und erhält daraufhin eine Pflegerin in Spitalkleidung als Begleiterin zur Seite gestellt. Angetrieben von ihrer natürlichen Neugierde geht Luise durch die Gänge der Gebäude, da «erschreckten mich laute, durchdringende Schreie, die aus dem Zimmer gegenüber zu kommen schienen». Auf ihre Frage, was dort geschehe, meint die Pflegerin gleichgültig: «Dieser Lärm? Oh, das ist nur ein polnischer Graf, der seit 35 Jahren hier ist.»

      Als Luise zudem sieht, dass alle Fenster vergittert sind, zum Essen weder Gabel noch Messer gereicht werden und nachts in den Gängen Schreie zu hören sind, dämmert ihr allmählich, dass sie in einer veritablen Irrenanstalt gelandet ist: «Ich dachte, diese Entdeckung würde mich töten. Hier war ich nun an dem Ort, den ich am meisten auf der Welt fürchtete! Aus Angst vor diesem hatte ich meinen Ruf geopfert. Diese letzte Ironie des Schicksals war zu viel für meine abgespannten Nerven. […] Ich wünschte zu sterben, so trostlos, verlassen und einsam fühlte ich mich.»

      Diese Beschreibung scheint teilweise ihrem Hang zur Dramatik geschuldet. Denn Luise geniesst eine Sonderbehandlung, sie bewohnt im weitläufigen Park eine separate Villa mit vier Zimmern, hat eine eigene Pflegerin, und ihre Kammerfrau steht ihr noch immer zur Verfügung – sie hat einen deutlich besseren Status als eine gewöhnliche Patientin. Zwar meckert sie, ganz die verwöhnte Kronprinzessin, über die Qualität des Essens – «schlecht gekochte, unappetitliche Speisen, deren Anblick mich ekelte».

      Sie lässt sich ein Kruzifix und einen Betschemel bringen, was sogar den Weg in eine Wiener Zeitung findet, die dazu schreibt: «Woraus auf den Beginn der reuigen Einkehr zu schliessen ist.» Die ärztliche Betreuung von Luise übernimmt nicht irgendein Assistenzarzt, sondern der 55-jährige Auguste Forel, eine anerkannte Kapazität seines Fachgebiets. Rechtsanwalt Lachenal hofft sehr darauf, dass der Psychiater eine Unzurechnungsfähigkeit diagnostiziert. Das könnte er dann vor Gericht zu ihrer Entlastung vorbringen.

      Ein offensichtlicher Abstieg

      Forel trifft Luise mehrmals und führt lange Gespräche mit seiner prominenten Patientin, um ein fundiertes Gutachten zu erstellen. Darin beginnt er mit ihrer Kindheit, die sie mit Bruder Leopold und acht jüngeren Geschwistern mehrheitlich in Salzburg verbracht hat. Die Kinder bekamen den offensichtlichen Abstieg ihres Elternhauses und den Bedeutungsverlust fatalerweise mit. Den Grossvater mütterlicherseits, Ferdinand Karl III. von Bourbon, kennen Luise und Leopold nur aus Erzählungen: Dieser war Herzog von Parma, regierte aber dermassen reaktionär und willkürlich, dass er sich sehr unbeliebt machte. Er liess Aufrührer öffentlich auspeitschen oder gleich hinrichten; prompt erdolchte ihn 1854 ein Unbekannter auf offener Strasse in Parma. Zuvor war schon sein Schwiegervater einem Attentat zum Opfer gefallen. Wenig später ging das Herzogtum Parma der Familie verloren. Kurz und schlecht: Luises Familiengeschichte mütterlicherseits ist gespickt mit sehr tragischen Ereignissen.

      Aber auch die väterliche Verwandtschaftsseite hatte wenig Glück. Luises und Leopolds Vater, Ferdinand IV., erlebte den Niedergang der österreichischen Herrschaft in Italien hautnah. Dessen Vater – also der Grossvater von Luise und Leopold – hatte die Toskana noch allein regiert. Doch nach den Revolutionen 1847/48 musste er sein Herrschaftsgebiet verlassen, um dann knapp ein Jahr später, nach einer Art Konterrevolution, zurückzukehren. Doch 1859 war seine Zeit in Florenz endgültig abgelaufen, er dankte ab, zugunsten seines ältesten Sohnes Ferdinand IV.

      Luises und Leopolds Vater regierte als Grossherzog der Toskana gar nie, sondern musste zusehen, wie sich die Toskana mittels Volksabstimmung dem Königreich Sardinien anschloss. Damit endete die Herrschaft des Hauses Habsburg-Lothringen-Toskana endgültig, und Ferdinand IV. zog nach Salzburg um.

      Um es auf den Punkt zu bringen: Der Grossvater war der Totengräber ihrer Herrschaft über die Toskana, der Vater der Nachlassverwalter – aber Luise und Leopold waren damals noch nicht einmal geboren. Dennoch prägte diese Vorgeschichte ihre Kindheit und die Position ihres Familienzweigs innerhalb des Hauses Habsburg.

      Nach den Wirren in Italien war Luises Vater, der Grossherzog, ohne Reich und ohne Macht, zwar erst 33-jährig, aber bereits ein gebrochener Mann. Er hatte obendrein noch seine erste Frau im Kindsbett verloren und stand jetzt da mit einer zehnjährigen Tochter. Er lernte Alicia von Bourbon kennen, die er zu seiner zweiten Frau machte; Ferdinand wollte ihr etwas bieten, aber mehr als den Ehrentitel «Grossherzog der Toskana» hatte er nicht vorzuweisen. Sein Verwandter, Kaiser Franz Joseph, hatte Erbarmen und hielt ihm den Nordtrakt in der Salzburger Residenz zu, der seither «Toskaner Trakt» heisst. Hier liess sich Ferdinand mit Alicia nieder, und hier kamen dann 1868 Leopold und 1870 Luise zur Welt. Sie wuchsen in einer merkwürdigen Scheinwelt auf.

      Denn ihr Vater, familienintern «Nando» genannt, konnte nicht akzeptieren, dass er ein Herrscher ohne Reich war. Er hielt krampfhaft am grossspurigen Leben eines Grossherzogs fest. Das zeigte sich beispielsweise darin, dass er sich in Salzburg einen ganzen Hofstaat hielt, wie sein Vater zuvor in Florenz, nur dass die hohen Beamten überhaupt keine Funktionen mehr ausübten. So beschäftigte Nando einen Obersthofmeister, eine Kanzlei mit mehreren Sekretären, unzählige livrierte Lakaien, uniformierte Wachposten, und beim Glockenspielturm war im Vorbau eine ganze Wachkompanie im Einsatz. Diese zeigte mit martialischen Trommelwirbeln und Fanfarenstössen der ganzen Welt die Ankunft von Mitgliedern der erzherzoglichen Familie an.

      Nur hörte niemand mehr zu.

      Das ganze Getue war überholt.

      Überlieferte Traditionen ohne Inhalt.

      Und dementsprechend hohl.

      Auch kulinarisch mochte Nando nicht zurückstecken. Er genoss toskanisches Essen, grosse Empfänge und opulente Gelage; dazu liess er immer wieder meterhohe Tonurnen mit feinstem Olivenöl aus der Toskana nach Salzburg bringen. Bei grossen Festen und Bällen ging es im Toskaner Trakt der Salzburger Residenz sehr prunk- und glanzvoll zu und her: Niemand sollte den Bedeutungsverlust des Hauses Österreich-Toskana bemerken. Luises Mutter Alicia trug rauschende Roben von teuren Schneidern und edelsten Schmuck; schliesslich gehörte ihr das legendäre Brillantenhalsband von Marie Antoinette, der einstigen Königin von Frankreich.

      Ein hohes Lebensideal

      Wenn Nando nach aussen grosszügig bis grössenwahnsinnig wirkte, gab er sich gegenüber seiner Tochter aus erster Ehe und seinen zehn Kindern aus zweiter Ehe ausserordentlich knausrig. Die Kinder wuchsen ohne Luxus auf, mehr noch: Nando pries die Einfachheit, die er selbst so gar nicht lebte, als grosse Tugend und als hochzuhaltendes Lebensideal. So mussten sich die Kinder mit einer einfachen Kammer und einem schmalen Bett, mit einem dünnen Kopfkissen und einer einzigen Decke für Sommer und Winter begnügen, während ihre Cousins und Cousinen ganze Schlossflügel mit eigenen Bediensteten bewohnten.

      Nando liess Leopold, Luise und ihre Geschwister jeden Morgen mit eiskaltem Wasser abduschen, was er als hygienisch und charakterbildend erachtete. Er geisselte jede Art von Verweichlichung, was seine Kinder


Скачать книгу