Luise und Leopold. Michael van Orsouw
Stunde Spielen auf dem Programm. Dann, Punkt 7.55 Uhr, begann der Unterricht; um 12 Uhr gab es Mittagessen, hinterher einen Spaziergang. Von 14 bis 17 Uhr war wieder Lernen angesagt. Danach versammelten sich alle im Salon, um den Eltern in aller Förmlichkeit zu begegnen und sie mit einem Handkuss zu begrüssen. Das Abenddiner dauerte bis 19 Uhr, um 20 Uhr war Zeit, zu Bett zu gehen.
Luise und Leopold durchlebten keine glückliche Kindheit. Leopold nennt das Aufwachsen unter diesen Umständen «mehr Zwingburg als Fürstenschloss», während Luise meint: «Meine Kindheitserinnerungen knüpfen sich an die dunkle, traurige Residenz, die bedrückend auf mein Kindergemüt wirkte, ein Wohnsitz, grossartig und vornehm zwar, aber von unwohnlicher Steifheit.»
Über diese Kindheit wird Luise eingehend mit ihrem Psychiater Auguste Forel gesprochen haben. Das Aufrechthalten der Fassade, hinter der keine Gebäude mehr stehen, dürfte in dem Kind, das Luise damals in Salzburg war, widersprüchliche Gefühle ausgelöst haben. Ihre Eltern gaben vor, wichtige Royals zu sein, aber sie waren es längst nicht mehr, sie führten eine Art Geisterhof.
Forel verwendet in seinem Gutachten die Sprache des Fachmanns: Um Luise zu verstehen, müsse man ihre Familie mit der dort vorkommenden «Inzucht mit der erwähnten, zu impulsiven Handlungen führenden Charaktereigentümlichkeit berücksichtigen, welche vielfach bekanntlich zu ausgesprochenen Psychopathien ausarten». Kurz gesagt: Das Aufwachsen in einem solchen Umfeld macht krank.
Dennoch galt Luise als ein ausgesprochen munteres, heiteres Kind, das sich dem höfischen Gehabe nicht unterordnen wollte, gerade weil die Salzburger Residenz offensichtlich schon an allen Ecken und Enden knirschte und morsch war; der ganze Prunk und Pomp war nur noch brüchige Fassade. «Ihr Wesen», bilanziert Forel, «war von einer in Hofkreisen sehr ungewohnten Burschikosität, welche sich keiner Etikette fügen wollte und bei ihren Eltern auch nicht fügen musste.» Sie wird verwöhnt, gehätschelt und flüchtet in Fantasiegebäude, um den Widersprüchen der Gegenwart zu entkommen. Deshalb entwickelt sie einen «Hass gegen alle Pedanterie, allen Formalismus und alle Heuchelei». Sie gibt sich impulsiv und spontan, wenn Zurückhaltung angesagt ist; sie benimmt sich vorlaut und witzig, wenn Diplomatie gefragt wäre; sie entschwindet in romantische Vorstellungen, wenn sie auf dem Boden der Realität erwartet wird. Sie erfüllt keine der in sie gesetzten Erwartungen.
Zudem sprechen Forel und seine Patientin über die starke Religiosität ihres Elternhauses. Ihre Halbschwester aus der ersten Ehe des Vaters, die fromme Maria Antonia, ging ins Kloster und wurde schon in jungen Jahren Äbtissin des Theresianischen Damenstifts in Prag. Doch als Luise elf Jahre alt war, starb die Nonne, erst 25-jährig, an einer Lungenentzündung, aller Frommheit zum Trotz. Dieses Erlebnis bewegte Luise tief, und nach der Desillusionierung der höfischen Welt bekam dadurch auch ihr Gottvertrauen einen Dämpfer und liess sie am Glauben zweifeln.
Angesichts dieser Vorgeschichte scheint Psychiater Forel seiner Patientin viel Mitgefühl und auch Sympathie entgegenzubringen. Er stellt «ungemein mildernde Umstände» fest und lädt sie sogar zu sich nach Hause nach Chigny bei Morges ein – aufgrund der klassischen Arzt-Patientin-Beziehung fast schon eine Grenzüberschreitung. Auch Luise fühlt sich in den Gesprächen mit dem Nervenarzt verstanden, der mit seinem Alter, der hohen Stirn und dem weissen Bart ihrem Vater gleicht; und ihr doch so viel empathischer vorkommt als dieser.
Doch Forel ist weder Freund noch Ersatzvater, sondern der Gutachter. Selbstverständlich kommt er auch auf die Affäre mit André Giron und das Im-Stich-Lassen ihres Gatten und ihrer Kinder zu sprechen. Um sich hier zu erklären, holt Luise weiter aus und schildert ihre ganze Liebesbiografie.
Eine attraktive Braut
Luise erzählt davon, dass hochadelige Verehrer sie schon früh umworben haben. Der erste Kandidat war Pedro von Brasilien, ein Neffe des Kaisers von Brasilien; Luise war damals gerade mal 14 Jahre jung. Arrangiert von ihrer Mutter Alicia, trafen sich die jungen Adligen im Kurort Baden-Baden. Luise berichtet später darüber in ihren Memoiren: «Pedro sah in mir nur ein lustiges Kind, und wir verbrachten alle unsere Zeit, in dem Garten der Villa herumzulaufen und über Blumenbeete zu springen.» Aus der Verbindung wurde also nichts.
Etwas später hielt Prinz Ferdinand von Coburg, der Herrscher des wiedererstandenen Fürstentums Bulgarien, um ihre Hand an. Sie schildert ihn als einen «schönen und eleganten Mann, der geistvoll und reich eine Frau glücklich machen konnte», doch sie nahm ihn als eine Art «Opernkönig» wahr und nicht ernst.
Ein Möchtegern-Royal.
Wie ihr Vater.
Sie war nicht interessiert.
Und wurde älter.
Der Druck stieg.
Als ihr dann Friedrich August III. von Sachsen den Hof machte, konnte sie nicht zum dritten Mal Nein sagen, schliesslich war sie 21 Jahre alt und spürte grosse Erwartungen auf sich ruhen. So willigte sie ein, obwohl sie den sächsischen Thronfolger nicht liebte. «Ich wusste, wie sehr meine Eltern meine Verheiratung wünschten», gesteht sie in ihrer Autobiografie, «unsere Erziehung bringt es mit sich, dass wir schweigend annahmen, was uns geraten wird. […] Ich weinte bitterlich, als ich meine Stellung mit der anderer Mädchen verglich, die niemals zu einer überstürzten Heirat gezwungen würden, die freier in der Wahl ihres Gatten sein konnten als eine arme Prinzessin.»
Für Mitleid mit der «armen Prinzessin» war kein Platz; bei der Heirat mit dem Thronfolger Sachsens ging es nämlich um politisch-diplomatische Aspekte, wie so häufig im Hause Habsburg, wo geplante Hochzeiten manchen Eroberungskrieg ersetzten. Denn die erste Frau von Luises Vater Nando – die bei der Geburt zusammen mit ihrem zweiten Kind starb – war Anna von Sachsen gewesen, eine Verwandte des jetzigen Verehrers. So war die Heirat von Nandos Tochter mit dem sächsischen Kronprinzen ein strategisch geschicktes Zusammenführen der beiden Herrschaftshäuser und obendrein eine Art Wiedergutmachung.
Zudem sah Luise ihre zukünftigen Einflussmöglichkeiten durchaus positiv: «Ich wünschte, an einer Stelle zu stehen, wo ich Einfluss hatte, und der Gedanke, Königin zu werden, schmeichelte meiner Eitelkeit.» Sie hatte ja als Kind und Jugendliche die Wirkungslosigkeit ihres Vaters vor Augen gehabt, die sie mit der Heirat des Kronprinzen zu überwinden gedachte.
Doch jetzt, im Februar 1903, stellt Luise gegenüber Forel die Ehe mit ihrem Gatten als ziemlich schrecklich dar. Wenn sie auch nur ein wenig ihr Temperament zeigte, indem sie etwa im Theater Leuten freundlich zunickte oder ihnen sogar über die Logenbrüstung hinweg die Hand schüttelte, galt das als unhöflich und einer zukünftigen Königin nicht würdig.
Auch dass sie sich mit der bekannten Schauspielerin Eleonora Duse anfreundete, galt als unschicklich. Einmal erhob Luise an der grossen Hoftafel das Glas und rief Ranghöheren «Prosit!» zu, wieder ein Fauxpas, den ihr Mann scharf kritisierte. Sie liess es sich nicht nehmen, kleine, anspruchslose Musikstücke für die Hofunterhaltung zu komponieren oder bei einem Tanzspiel am Fest des Österreichisch-Ungarischen Hülfsvereins mitzuwirken. Schliesslich fuhr sie einmal mit dem Rad auf den Strassen Dresdens, notabene zu einer Zeit, da es sich für Frauen nicht geziemte, in der Öffentlichkeit zu radeln, was ihr prompt einen zweiwöchigen Hausarrest bescherte.
Bezüglich richtigen Benehmens war Friedrich August sehr unzimperlich, indem er ihr bei Zuwiderhandlungen immer mal wieder für kurze oder lange Zeit Hausarrest verordnete. Wenn Luise bei einem Empfang fehlte, mutmassten die Gäste jeweils, sie stehe wohl wieder unter Hausarrest, den ihr Friedrich August auferlegt habe. Die Vermutung traf meistens zu.
Der Nervenarzt Forel lässt seine Patientin reden und fasst die Ehe mit Friedrich August so zusammen: «Sein ganzes Wesen war ihr stets unsympathisch, gelegentlich förmlich verhasst, obwohl sie seine Zuneigung zu ihr und auch seine Güte und Ehrlichkeit durchaus anerkennt. Ihr ganzes Wesen zog sie zur Kunst, zum philosophischen Denken und zur geistigen Beschäftigung, die sie in ihrer Ehe nicht finden konnte.» Deshalb hatte Luise seit Langem eine «unerfüllte Liebessehnsucht» in sich und dachte schon seit Jahren an eine Flucht aus der Ehe …
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