Luise und Leopold. Michael van Orsouw
er sich nicht nehmen. Dazu sitzt er tagelang im Empfangsbereich des Hotels und beobachtet von der Hotelhalle aus, wer wann mit wem ein- und ausgeht. Täglich sendet Schwarz seine Bulletins detailgenauer Beobachtungen dem Polizeipräsidenten von Dresden, Albin Hugo Le Maistre. Meistens unterschreibt der Überwacher seine Beobachtungen mit «Schwarz», manchmal aber auch mit «Niger» – welch fehlgeleitete Ironie! Um mehr Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, fängt Schwarz die Post für die royalen Gäste ab, besticht Telefonistinnen und Zimmermädchen mit üppigen Trinkgeldern, um an weitere Informationen zu gelangen, führt genaue Erkundigungen auf der zweiten Etage des Hotels durch und zeichnet von Hand Pläne der Zimmer 7,8 und 9. Er hält auf den handgefertigten Grundrissen genau fest, welche Zimmer Durchgänge haben und vor allem, wo die Betten stehen: Jenes der Kronprinzessin steht direkt neben jenem von Giron, was er abermals als Beweis für den Ehebruch auslegt.
Hier halten sich Luise und Leopold auf: im Hotel d’Angleterre in Genf.
Arthur Schwarz schildert in einem seiner Bulletins die Arbeitsweise: Wenn er der Prinzessin «hier zufällig einmal begegnen muss, benehme ich mich natürlich höchst respektvoll, grüsse sie aber absolut nicht. Die anderen 3 Personen, die mich ja nunmehr alle von Ansehen kennen, ignoriere ich vollständig.» Erzherzog Leopold ärgert sich über die Anwesenheit des lästigen Kriminalbeamten aus Sachsen; deshalb erkundigt er sich bei Hotelier August Reichert, ob er gleich das ganze Hotel mieten könne, um Arthur Schwarz loszuwerden. Doch der Hotelier lehnt das Begehren mit Blick auf die anderen Gäste ab.
Weil die Entführung scheitert und Ehebruch in Genf für eine Verhaftung nicht ausreicht, beschreiten die Sachsen den rechtlichen Weg, um der Kronprinzessin habhaft zu werden. Sie bezichtigen Luise des Diebstahls und beantragen deshalb einen internationalen Haftbefehl. Die Kronprinzessin soll im Zustand geistiger Umnachtung alle sächsischen Kronjuwelen im Wert von 800 000 Mark gestohlen haben.
Doch diese Anschuldigung ist frei erfunden, denn Luise hat nur persönlichen Schmuck mit dabei, den sie geschenkt bekommen hat. Wir erinnern uns: Im Handkoffer hatte sie nur sehr begrenzt Platz. Sie führt viel weniger Werte mit sich, als sie in Dresden zurückgelassen hat. So wird die beantragte internationale Fahndung nach wenigen Tagen wieder aufgehoben, denn die Geisteskrankheit und die Anschuldigungen wegen des Diebstahls sind zu konstruiert und zu wenig glaubhaft. Doch schon agitieren und intrigieren die Sachsen weiter.
Eine offizielle Lüge
Um den Schaden zu begrenzen, sieht sich der sächsische Hof von König Georg jetzt gezwungen, in Dresden eine offizielle Depesche zu veröffentlichen. Am 17. Dezember heisst es über Luise: «Die Kronprinzessin ist, laut von Salzburg hier eingegangener Nachrichten, erkrankt und wird in Folge dessen voraussichtlich erst nach einiger Zeit nach Dresden zurückkehren.» Das ist eine Notlüge, um Zeit zu gewinnen und der geflohenen Luise doch noch eine Rückkehr ohne Gesichtsverlust zu ermöglichen.
Doch Luise reagiert nicht darauf.
Weshalb sollte sie?
Sie liebt André Giron.
Und verlebt in Genf schöne Tage.
Sie sind innig verliebt.
Zudem fühlt sie sich von Rechtsanwalt Lachenal und von der Genfer Polizei geschützt. Zwar haben sie und ihr Geliebter bemerkt, dass der sächsische Geheimpolizist im gleichen Hotel wohnt. André Giron kontert spöttisch: «Er kann uns nichts anhaben, er wartet nur, dass wir Genf verlassen, in diesem Falle würde er uns sofort arretieren.» Denn Genf verhält sich, wie erwähnt, liberaler als die anderen Schweizer Kantone, was Ehebruch angeht. Giron ist sich dessen bewusst, wenn er festhält: «Wir verlassen Genf nicht früher, als bis alles arrangiert ist.»
Damit meint Giron die Annullation der Ehe seiner Geliebten. Denn das Heiraten scheint beim Quartett das grosse Thema zu sein; Leopold will ja möglichst rasch seine Wilhelmine ehelichen. Am gleichen Tag, als der sächsische Hof die Unwahrheit über Luises angebliche Krankheit öffentlich verbreitet, schreibt Kaiser Franz Joseph seinem Verwandten Leopold Ferdinand. Offensichtlich hat sich der 72-jährige Kaiser vom ersten Schock erholt. Es braucht etwas Luft, um dem atemlosen Satz von Franz Joseph zu folgen: «Ich habe seine Verzichtleistung auf die ihm durch die Geburt als Mitglied Meines Hauses zustehenden eventuellen Ansprüche und Rechte, insbesondere auch das Recht, als kaiserlicher Prinz und Erzherzog von Österreich, königlicher Prinz von Ungarn, Böhmen etc. angesehen und behandelt zu werden, genehmigt und ihm die erbetene Annahme des bürgerlichen Namens Leopold Wölfling gestattet.»
Der gewundenen Formulierung zum Trotz ist klar: Franz Joseph akzeptiert im Grundsatz Leopolds Ausstieg, aber erwähnt in der Folge weitere Konsequenzen: Sein Verwandter scheidet auch aus der kaiserlichen Armee aus und darf das Reich Österreich-Habsburg nicht mehr betreten. Schliesslich befiehlt er seinem Verwandten Leopold, möglichst bald eine fremde Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Das sind trotz unerwarteter Zusatzbedingungen gute Nachrichten für Leopold. Er kommt nämlich damit seinem Ziel, Wilhelmine zu heiraten, ein weiteres Stück näher. Vom Unterschreiben des Austrittsvertrags ist er dennoch ein grosses Stück entfernt, weil er sich finanziell besser absichern will und sich mit dem Kleingedruckten nicht einverstanden erklären kann. Leopold schickt seinen Anwalt vor, der bessere Bedingungen finanzieller Art aushandeln soll. Das dauert …!
Drei Tage später trifft in Genf unangemeldeter Besuch aus Wien ein. Es handelt sich um Erzherzog Josef Ferdinand, den jüngeren Bruder von Luise und Leopold; dieser soll seine Geschwister zur Vernunft bringen. Er wirkt als inoffizieller Botschafter des Hauses Habsburg: Kaiser Franz Joseph, der vor allem Luise persönlich gut leiden mag, lässt durch Josef Ferdinand einen Vermittlungsvorschlag überbringen. Luise solle Giron sofort fallen lassen, sich dem schlechten Einfluss von Bruder Leopold entziehen und nach Wien oder Dresden zurückkehren; dafür garantiere der Kaiser höchstpersönlich, dass sie von niemanden in ein Irrenhaus oder in ein Kloster gesteckt werde, solange er lebe.
Diese letzte Einschränkung lässt Luise zweifeln, denn Franz Joseph ist damals schon über ein halbes Jahrhundert im Amt und 72-jährig, sodass nicht klar ist, wie lange er noch das Sagen hat. (Dass Franz Joseph noch bis zu seinem Tod 1916 Kaiser bleibt, kann zu diesem Zeitpunkt niemand wissen.) Erzherzog Josef Ferdinand, drei Jahre jünger als seine Schwester, versucht es mit Argumenten, er lockt, er droht, und er befiehlt, denn er dient als Hauptmann in verschiedenen Regimentern – er ist sich militärisch zackiges Befehlen gewohnt, mit dem er allerdings hier in Genf nichts erreicht.
Schliesslich reist er frustriert und ohne Ergebnis zurück nach Österreich. Die Ironie der Geschichte ist, dass dieser Erzherzog 1902 seine Geschwister von unstatthaften Beziehungen abbringen will; doch ausgerechnet er heiratet später, 1921, selbst eine Bürgerliche, nämlich Rosa Kandie Kaltenbrunner. Nach Rosas frühem Tod nimmt er zwar eine Adlige zur Frau, allerdings wieder ungleicher Herkunft, nämlich Gertrude Tomanek von Beyerfels-Mondsee. Dafür wäre er vom Kaiser mit grosser Vehemenz getadelt worden, hätte dieser noch gelebt.
Kehren wir in den Dezember 1902 zurück, nach Genf. Während die zwei Ausreisser mit ihren Geliebten die Zeit damit verbringen, Einkäufe zu tätigen und das Theater zu besuchen, sieht sich der Hof in Dresden dazu gezwungen, nach der ersten Notlüge nun ehrlich zu informieren. Am 22.Dezember veröffentlicht das Dresdner Journal das offizielle Bulletin des sächsischen Königshofs: «Ihre kaiserliche und königliche Hoheit, die Frau Kronprinzessin, hat in der Nacht vom 11. zum 12.Dezember in einem anscheinend krankhaften Zustande seelischer Erregung Salzburg plötzlich verlassen und sich unter Abbruch aller Beziehungen zu ihren hiesigen Angehörigen ins Ausland begeben. Am königlichen Hofe sind diesen Winter alle grossen Festlichkeiten abgesagt. Auch der Neujahrsempfang wird nicht stattfinden.»
Die offizielle Verlautbarung soll dem Geschwätz und den anhaltenden Gerüchten ein Ende setzen. Aufschlussreich ist die Formulierung «in einem anscheinend krankhaften Zustande seelischer Erregung» – Luise wird pathologisiert, auch wenn das Wort «anscheinend» das Krankhafte etwas abmildert. Insofern stellt das Bulletin ein Meisterstück politischer PR dar, mit dem man sich viele Auswege offenlässt.
Doch der bis dato verborgene