Monster. Brigitte Jünger
Kapitel 118
1
Felix war der Letzte, der das Schwimmbad verließ. Er rannte die Treppen zum Ausgang hinunter, nahm immer zwei Stufen gleichzeitig. Die schwere Glastür fiel mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloss. Da hatte er die Straße schon erreicht, schlug nach wenigen Metern einen Haken nach rechts und bog unmittelbar danach in die nächste Querstraße ein. Niemand weit und breit! Waren sie alle schon weg? Felix wunderte sich nur kurz, denn im nächsten Moment fuhr der Bus, auf den er sonst immer warten musste, in die Haltestelle ein. Ungeduldig starrte er auf die sich langsam und ächzend öffnende Fahrzeugtür, sprang hinein und stürmte sogleich nach hinten durch.
„He, Freundchen! Fahrausweis?“
Felix stoppte abrupt, kramte seinen Schülerausweis aus der Jackentasche und ging zurück nach vorne.
„Auch wenn’s die letzte Fahrt ist, umsonst ist der Tod“, sagte der Busfahrer, warf einen kurzen Blick auf Felix’ Ausweis und nickte dann, weil alles okay war.
Die Letzte? Wieso die Letzte? Jetzt erst bemerkte Felix, dass der Bus leer war wie sonst nie. Er ließ sich auf einen Sitz in der letzten Reihe fallen und fühlte sich plötzlich merkwürdig ausgebremst. Vielleicht hätte er nach Hause laufen sollen. Jetzt saß er hier fest und kam sich vor, als hätte er das normale Raum- und Zeitkontinuum verlassen und wäre unvermittelt in eine andere Galaxie katapultiert worden. Alles fühlte sich anders und fremd an, und doch gab es auch hier einen Bus, den Fahrer, die blauen Sitze, die gelben Stangen und die grauen Haltegriffe, die von oben herunterbaumelten. Felix begann sie abzuzählen, sprang mit den Augen von Griff zu Griff, immer weiter nach vorne, wo es schwer wurde, die einzelnen Dinger auseinanderzuhalten. Waren das zwei oder war es nur einer, da rechts, fast beim Fahrer? Egal, Felix wanderte auf der linken Seite zurück, es kam nicht drauf an. Vierundfünfzig? Er startete seine Abzähltour noch einmal. In der Dämmerung nahm er die Felder, die draußen vorbeizogen, nicht wahr. Er zählte weiter, unterbrochen nur von der Stimme der Haltestellenansage, die ihn jedes Mal zusammenzucken ließ. Wieso war sie so viel lauter als sonst? Der Bus erreichte die nächste Ortschaft und der Fahrer schaltete in der Kurve einen Gang hinunter. Kein Mensch weit und breit. An der nächsten Haltestelle wurde der Bus nur langsamer, er hielt gar nicht mehr richtig an, denn kein Mensch wollte hinein oder hinaus. Lavendelweg. Nicht meine. Er hätte jetzt aussteigen können, um wenigstens das letzte Stück zu laufen, doch da gab der Bus schon wieder Gas. Zu spät. Lauter falsche Entscheidungen. Felix schaute aus dem Fenster und wünschte sich plötzlich, es würde immer so weitergehen, fahren, schauen, zählen. Ein Leben im Unterwegs, eingefroren auf drei unvermeidliche Tätigkeiten, die ihn zu einer neuen Spezies machten, einem komplett leeren Augenwesen, das ohne jeden Gedanken an ein Vorher und ein Nachher auskam.
Dahlienweg. Warum ist die Tonbandstimme heute nur so laut? Felix drückte schnell auf den Aussteigeknopf. Im nächsten Moment bremste der Bus und das zischende Geräusch der Türen schnitt ihm ins Trommelfell. Er ging ein paar Schritte, dann schrie die Amsel ihren Abendruf aus den Bäumen herüber, den sie der Welt bei einbrechender Dunkelheit hinterließ. Wer hat all die Geräusche so hochgetunt?
Felix bog in den Geranienweg ein und begann die Platten auf dem Gehweg zu zählen. Zufällig traf sein Blick das Straßenschild, und während er weiter zählte, kam ihm ein anderer Gedanke in den Kopf. Er erinnerte sich, dass er früher immer gedacht hatte, es hieße Geraniehnweg anstatt Gerani-enweg. Dabei war er damals schon im zweiten Schuljahr. Gerade hierhergezogen und neu. Mit hochgezogenen Schultern lief er weiter die stille Straße entlang. Dreiundsechzig. Die Einfamilienhäuser klebten aneinander wie Streichholzschachteln in der Verpackung. Typisch Vorort, verschlafene Ödnis. Er hatte schon damals gewusst, dass er sich nie daran gewöhnen würde. Nicht meine Entscheidung! Pah, selbst die Worte in seinem Kopf klangen lauter als sonst. Links tauchte der Magnolienweg auf. Diese bescheuerten Blumen. Felix begann von Neuem zu zählen, auch wenn er die Platten kaum noch richtig sehen konnte. Alles war besser, als an das Schwimmbad zu denken. Die Dusche. Vierunddreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig. Es kostete Mühe, aber es funktionierte. Noch vier Häuser, dann hatte er seine Schachtel erreicht. Sie lag fast vollständig im Dunkeln. Ein dünner Lichtstreifen aus dem Inneren bahnte sich seinen Weg bis zum Küchenfenster, das neben der Haustür lag. Mama saß vor dem Fernseher. Felix schloss vorsichtig die Tür auf und versuchte leise zu sein.
2
„Felix?“ Er hatte gerade seine Schuhe abgestreift und wollte die Holztreppe nach oben in sein Zimmer gehen, da fing ihn die Stimme der Mutter ein. „In der Küche sind noch Tortellini im Topf, kannst du dir warm machen. Ich komme nicht mehr hoch, bin total k.o.“
Die vertraute Stimme, der entfernte Geruch nach irgendeinem Parfüm, das sie ins kleine Klo neben der Treppe verbannt hatte, die Stimmen aus dem Fernseher. Diese Normalität schnürte Felix die Luft ab. Alles war wie immer, nur er war ein anderer. Ein Ausgestoßener. Diese Erkenntnis zog sich schmerzhaft durch seinen ganzen Körper, vom Hals bis in die Eingeweide. Messerscharf.
„Felix? Kommst du? Der Millionär ist noch dran, hat heute eine Extrasendung. Du bist spät.“ Er setzte sich auf eine der hölzernen Stufen gegenüber der Wohnzimmertür und schloss die Augen.
„Komme gleich.“
Die Arme um seinen Körper geschlungen, versuchte er den toten Punkt in seinem Inneren zu überwinden. Ein riesiger Graben lag zwischen ihm und allem, was hier vertraut und selbstverständlich war. Wie soll ich diesem Schlund entkommen? Gleichzeitig war es nur ein kleiner Schritt, denn nur er wusste davon. Dass er ein Fremder geworden war in diesem Haus, in einer dieser Blumenstraßen, in dieser Welt. Die Normalität um ihn herum war die Gleiche geblieben. Vielleicht musste er es nur schaffen, so zu tun, als wäre sie auch für ihn weiter normal.
„Kommst du?“ Wieder Mamas Stimme. „Die achttausend Euro Frage: Wer wurde 1976 in Montreal Weltmeister über hundert Meter Freistil der Männer? James Montgomery, Jerry Heidenreich, Wladimir Bure oder -?“
„Mark Spitz.“
Ein Name, eine Brücke hinüber auf die andere Seite der Welt. Felix gab sich einen Ruck, stand auf und ging in die Küche, um sich die Tortellini warm zu machen. Er stellte erleichtert fest, dass er das noch konnte. Als er mit dem Teller ins Wohnzimmer ging, war die Schwimmerfrage glücklicherweise längst abgehakt. Er setzte sich zu Mama aufs Sofa, legte seine Füße auf den Couchtisch und begann zu essen. Mama rückte näher und strubbelte ihm durchs Haar.
„Na, alles okay, Großer?“
Felix riss seinen Kopf so heftig zur Seite, dass die Tortellini vom Teller aufs Sofa schwappten. Er sprang auf und knallte den Teller auf den Tisch.
„Mensch, spinnst du denn?“ Mama schaute erschrocken, aber mehr noch empört, und sprang dann ebenfalls auf, lief in die Küche und holte einen Wischlappen. Da war Felix schon aus dem Zimmer gestürmt und die Treppe hinauf in sein Zimmer gerannt. Keine verdammte Berührung, hämmerte es in seinem Kopf. Das mit der Brücke war vorerst ein Irrtum.
3
Unter Wasser atmen. Seit ich die ersten Züge durchs Wasser gemacht habe, als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich diesen Traum. Abtauchen, wegschwimmen, nicht zurückkehren. Durchs Wasser gleiten, widerstandslos, immer weiter durchs Grünblau, aufmerksam jede Regung zwischen den Algen und den verschwommen auftauchenden Felsen betrachten. Leicht sein und völlig