Monster. Brigitte Jünger
Das rechte Bein schien bei jedem Schritt gegen einen Widerstand anzugehen und funktionierte nur mit Verzögerung. Humpelnd lief er herum, wobei sein rechter Arm leblos an der einen Seite seines Körpers herunterhing. Nach einem Unfall vor etlichen Jahren war der Arm zu nichts mehr zu gebrauchen und fristete sein Dasein als lästiges Anhängsel. Aber die öde Wüste des Schulalltags öffnete sich einen Spalt weit, wenn Dahlmeier für den Deutschunterricht in die Klasse kam. Wenigstens ein Blick auf diesen Lehrer hätte Felix heute Morgen Mut gemacht. Als er kurze Zeit später das Klassenzimmer betrat, war alles wie immer. Marius feilte seine Fingernägel. Einar schaute in sein Heft und ging noch mal seine ellenlange Hausaufgabe durch, um gleich mindestens einen schlauen Satz raushauen zu können. Vince lag halb auf seinem Pult und hörte Musik. Hamid war in ein Buch versunken. Pufu, mit dem Felix manchmal zusammen Ballerspiele und Waldläufe machte, hob kurz seine Hand und Alva schaute ebenfalls zu ihm herüber, wechselte von der Kippel- in die normale Sitzposition und lächelte. Lächelte so einfach und so selbstverständlich, wie sonst niemand hier. Felix war sogleich wieder verunsichert. Sollte das alles wirklich bedeuten, dass er einfach so weitermachen konnte wie vorher? Niemand reagierte anders als sonst. Keiner sagte: Felix? Wieso bist du heute so anders? Felix, wieso bist du heute so ein Häuflein Asche und nicht mehr der strahlende Schwimmheld?
Er sank an seinem Platz auf den Stuhl, dann kam der Teschner herein und sie hatten Mathe. So ein Mist. Felix holte sein Heft heraus und schaltete im gleichen Moment ab. Er beobachtete die Spinne, die schon gestern begonnen hatte, in der rechten Ecke des mittleren Fensters ihr Netz zu weben. Jetzt saß sie dick und fett mittendrin und Felix wunderte sich, dass Manu noch nicht in hysterisches Gekreische ausgebrochen war. Aber sie saß mit dem Rücken zum Fenster und hatte die Spinne wahrscheinlich noch gar nicht gesehen. Er begann wieder zu zählen, die Fenster, die Rahmen, die Griffe, die Vorhänge. Kleine Fische. Er wanderte hinüber zu den Fliesen an der Wand mit der Tafel, die schon eine größere Herausforderung waren und versuchte, nicht aus der Spur zu geraten. Mathe fand irgendwo in einem anderen Universum statt und er bekam nicht mit, dass der Teschner ihm schon zum zweiten Mal die gleiche Frage stellte.
„Felix! Würdest du dich eventuell zu einer Antwort herablassen?“ – Pause. – „Felix! Bist du bekifft oder einfach nur gewohnheitsmäßig abwesend?“ Der Teschner hob das Mathebuch vom Pult und ließ es im nächsten Moment mit einem lauten Knall auf die Tischplatte fallen.
Schwerfällig veränderte Felix seine Sitzposition und sagte: „Keine Ahnung.“
Die Jungs in der hinteren Reihe lachten anerkennend, aber gerade noch so, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Der Teschner sagte: „Okay, Einar, hast du vielleicht das, was diesem Herrn hier fehlt?“ Er hatte.
8
Alva wartete in der Pause am Zaun auf ihn. Sie lächelte. So einfach und schön wie ein Lächeln sein konnte, das ohne Hintergedanken am Horizont aufsteigt und strahlt. Felix war jedes Mal aufs Neue erstaunt, dass es ihm galt. Immer noch. Auch über die Selbstverständlichkeit, mit der sie jetzt in der Pause gemeinsam über den Hof Richtung Raucherecke schlenderten. Geraucht wurde dort zwar schon lange nicht mehr, aber in dieser Ecke, hinter dem Hauptgebäude, entging man den jüngeren Schülern, die auf dem Hof herumrannten oder Fußball spielten.
„Der Teschner hat voll den Knall“, sagte Alva.
Felix grinste. Rührend, dass sie immer noch daran dachte, war doch schon zwei Stunden her. „Ach, der dumme Hund. Aber man weiß immer, woran man bei ihm ist.“
Alva sah kurz zu ihm herüber und jetzt war sie es, die grinste.
„Ach, du steckst den einfach in deinen imaginären Zwinger und da kann er dann so lange bellen, wie er Lust hat? Ziemlich brillant!“
Felix griff in die Tasche seines Parkas und holte ein abgegriffenes Heft heraus, blätterte darin und reichte Alva im Gehen die aufgeschlagene Seite. Sie blieb stehen und betrachtete die Karikatur. „Nicht dein Ernst! Wieso kannst du so gut zeichnen? Dieser Köter mit den gefletschten Zähnen ist dem Teschner wie aus dem Gesicht geschnitten!“ Sie fing an zu blättern, sah sehr viel Gekritzel, aber auch ein Rotkehlchen, einen Totenkopf und verschiedene verdrehte Figuren, doch da nahm Felix ihr das Heft schnell wieder aus der Hand und ließ es zurück in die Parkatasche gleiten.
„Ist ja nur so eine Kritzelei.“
Er wusste nur zu gut, dass es leider nicht immer so leicht funktionierte wie beim Teschner. Sie hatten die Raucherecke erreicht.
„Dreamteam, da seid ihr ja endlich! Wollt ihr auch einen Lolli?“ Vince nahm seinen kugelrunden Lutscher aus dem Mund und hielt Alva und Felix die Tüte mit den gestreiften Zuckerdingern hin. Dann steckte er seinen eigenen wieder in den Mund, saugte daran und tat im nächsten Moment so, als würde er Rauch aus dem Mund blasen.
„Kannst du dich immer noch nicht damit abfinden, dass Rauchen auf dem Schulgelände verboten ist?“, fragte Alva und verdrehte die Augen. Vince lutschte weiter genüsslich an seinem Lolli und schob ihn dann in eine seiner Backentaschen.
„Es ist und bleibt Freiheitsberaubung“, dozierte er wie ein Universitätsprofessor. „Sind wir nicht vierzehn und dürfen unsere Religion frei wählen, allein in Urlaub fahren und uns an allen sichtbaren und unsichtbaren Stellen piercen lassen? Nicht zu vergessen: Niemand kann uns verbieten, Sex zu haben! Schon mal etwas davon gehört?“ Vince lächelte sein boshaftes Lächeln, bei dem eine seiner Augenbrauen bis zum Haaransatz in die Höhe rutschte. Felix wich seinem Blick aus. Die Aufzählung, die Vince ihnen unter die Nase gerieben hatte, verursachte ihm Übelkeit. Der Blödmann hatte doch überhaupt keine Ahnung! Felix setzte sich auf das Mäuerchen, das die Raucherecke begrenzte und hatte alle Mühe, das geheime Verlies in seinem Inneren unter Kontrolle zu halten. Einar, der sich sichtlich langweilte, sagte: „Oh, Mann, diese Diskussion schon wieder! Willst du wirklich zum hundertsten Mal über den Sinn oder Unsinn von Rauchverboten diskutieren? Damit hast du uns alle doch lange genug genervt!“ Pufu konnte ihm nur zustimmen. „Kannst du dich vielleicht endlich mal damit abfinden, dass es einfach Regeln gibt, die auch du einhalten musst? Regeln, die Sinn machen! Rauchen ist schließlich sowas von Scheiße.“ Er hatte ebenfalls einen Lolli in der Hand und steckte ihn nach diesen drei Sätzen entnervt wieder in seinen Mund.
„Aber die Freiheit! Leute, denkt doch mal nach: die Freiheit!“ Vince hatte sogar mal erwogen, eine Klage bei der Schulbehörde einzureichen, um seine Rauchfreiheit zu erlangen. Doch zum Glück hatten die anderen ihn von der Nutzlosigkeit einer solchen Aktion überzeugen können. Hamid, der keinen Lutscher brauchte und nur selten etwas sagte, sah zu Vince hinüber, aber eigentlich sah es eher so aus, als würde er durch ihn hindurchschauen.
„Freiheit ist doch nicht dafür da, dass jeder machen kann, was er will.“
Vince’ Augenbraue rutschte wieder nach oben.
„Unser persischer Klugscheißer! Der hat ja mal wieder ganz genau aufgepasst. Persisch oder war es arabisch? Wo kommst du noch mal her?“ Es war zwecklos, Hamid provozieren zu wollen. Der schaute nur auf die Spitzen seiner abgewetzten Sneakers und sagte trocken: „Ich bin Deutscher, in Köln geboren, wie du. Schon vergessen?“
Vince hob die Hände und spuckte den abgelutschten Stiel seines Lollis auf den Boden.
„Okay, okay, ich will euch nicht die Laune verderben. Ihr seid die Guten und ich hab mal wieder die Arschkarte gezogen. Lasst uns den Mantel des Schweigens über dieses Gerede ausbreiten. Gleich haben wir Englisch und die Klausur wird sicher nicht einfach.“
Man konnte über Vince denken, was man wollte, wenigstens wusste er, wann er aufhören musste. Aber er schickte noch etwas hinterher: „Übrigens, Leute, nicht vergessen, nächste Woche Samstag steigt endlich die Fete bei mir. Schreibt es euch rot in den Kalender!“
9
Nach der siebten Stunde war es diesmal Felix, der am Schultor stand und wartete, ob Alva noch kommen würde. Sie hatten nie darüber geredet, nichts vereinbart und