Monster. Brigitte Jünger

Monster - Brigitte Jünger


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aber Felix hatte seither zwei Zimmer, eins zum Schlafen und eins zum Spielen. Oder er tat sowohl das eine als auch das andere in beiden Zimmern. Und er ging weiter zum Schwimmen, diesmal in einem Verein. Zuerst einmal in der Woche, dann montags, mittwochs, donnerstags und freitags. Er machte Ferienfreizeiten, in denen er trainierte, und fuhr immer öfter zu Wettkämpfen. Weller stand am Beckenrand mit der Stoppuhr in der Hand und strahlte. Auf Felix war Verlass. Selbstverständlich. Felix, der Charming Boy, der Liebling des Trainers. Wie hatte er diesen besonderen Platz an dessen Seite genossen. Blindlings. Jetzt ekelte er sich vor sich selbst. Er dachte an die Nachrichten, die ab und zu auf seinem Handy angekommen waren. „Du bist der Beste.“ „Dein Body sieht verdammt gut aus. Bist du echt erst vierzehn?“ „Geiler Sixpack, den du dir antrainiert hast.“ „Bist du bereit für Olympia? Ich bringe dich hoch – aufs Treppchen.“ Je älter er wurde, umso häufiger kamen solche Nachrichten von Weller. Wie blind war er gewesen?! Es war ja tatsächlich alles seine eigene Schuld. Felix trat gegen einen Laternenpfahl, der das Pech hatte, gerade dort zu stehen. Was hielt er sich mit diesem Scheiß auf? Dieses verdammte Leben war absolut nutzlos. Ein Zufall hatte einen in diese Welt geworfen und dann konnte man sehen, wie man mit seiner Sehnsucht nach Glück zurechtkam. Er verbiss sich den Kloß, der schon wieder in seiner Kehle auftauchte und rannte einen kleinen Abhang hinunter. Rennen tat gut. Es machte den Kopf leer und pulverisierte die Gedanken zu Staub. Felix lief eine Runde um die große Wiesenfläche und dann den Hügel auf der anderen Seite wieder hinauf, bis er die ausgestorbene Ladenzeile erreichte, die dort lag. Hier begann das nächste Vorortviertel. Als er noch in die Grundschule ging, die direkt nebenan lag, hatte es unter den Geschäften, die sich um den kleinen Platz in der Mitte gruppierten, einen Bäcker gegeben, bei dem man Zimtschnecken kaufen konnte, die so köstlich waren wie nirgendwo sonst. Jetzt gab es auch dieses Geschäft nicht mehr. Felix ging weiter und überquerte die große Straße, die hinter der Ladenzeile um den Ort herumführte, und gelangte zum See.

      Unter Wasser atmen. Manchmal hatte es sich tatsächlich so angefühlt, als wäre das möglich. Dabei hatte er doch immer den Kopf ein winziges Stück aus dem Wasser gehoben, als er die Bahn durchpflügte. Aber das war so schnell gegangen und hatte sich irgendwann so selbstverständlich angefühlt, dass es zu einem einzigen Zustand geworden war. Die perfekte Anpassung an eine dritte Dimension. So wie aus vielen Einzelbildern, wenn man sie nur schnell genug aneinanderreiht, ein bewegter Film wird. Felix verließ den Weg, der sich am Wasser entlangschlängelte und setzte sich an einer abgelegenen Stelle auf einen Baumstumpf, der zwischen einer Ansammlung von hohen Bäumen übrig geblieben war. Er atmete tief aus, schaute über das Wasser und begann die Bäume auf der anderen Seite des Sees zu zählen. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag und er schaute einfach nur übers Wasser.

      Dieser verrückte Vogel da oben! Er gab nicht auf. Sang sich die Seele aus dem Leib als gäbe es dafür etwas umsonst. Immer die gleiche Melodie. Vielleicht auch nur fast die gleiche. Als müsste er dem Leben eine Verzierung verpassen. Felix holte das Päckchen mit dem Tabak aus seiner Jackentasche. Wieder schnürlte die perlende Melodie durch die Luft, machte eine winzige Pause und setzte von Neuem ein. Die Beklemmung, die ihn vorhin mit kalter Hand ergriffen hatte, war verschwunden. Felix legte etwas Tabak aufs Papierchen, leicht und geschmeidig ließ er sich diesmal einrollen. Lecken, andrücken, überstehenden Tabak abschnipsen – die Kippe sah doch ganz passabel aus, nicht wie das krumme Ding von heute Mittag. Aber rauchen würde er sie nicht, es schmeckte einfach zu widerlich. Wie hatte Vince das nur die ganze Zeit ausgehalten? Felix versenkte die Zigarette in seiner Jackentasche und blieb noch einen Moment auf dem Baumstumpf sitzen. Da passierte es wieder. Irgendetwas wollte ihm die Luft abdrücken und ihn verschlingen, doch der anmutige Gesang des Vogels, kraftvoll und gleichzeitig hauchzart, schien das einfach wegzusingen. Er hatte das überraschende Gefühl, sein Körper würde sich entspannen. Etwas tief drinnen in seiner Brust dehnte sich und wurde weit wie sonst nur nach hundert Bahnen im Becken oder einer halben Stunde Joggen um den Weiher im Stadtwald. Er legte den Kopf in den Nacken und folgte den Tönen mit seinen Augen. Ast für Ast tastete er ab und konnte das Rotkehlchen doch nicht entdecken. Als ihm vom Hochschauen schwindelig wurde, schaute er zu Boden und dachte: Vögel müssen nichts anderes sein als nur Vögel. Plötzlich bewegte sich ein Schatten von rechts oben nach links unten auf den Boden und Felix schaute automatisch hinüber. Da saß das Rotkehlchen keine drei Meter von ihm entfernt im Gehölz und schaute mit seinen kugelrunden schwarzen Augen aufmerksam zu ihm herüber. Es stakste ein Stück weiter, warf einige Blätter zur Seite und pickte auf dem Boden herum. Dabei bewegte es sich unerschrocken noch ein Stückchen näher auf Felix zu. Er hielt den Atem an und fragte sich, wie nah es wohl kommen würde. Gleichzeitig hoffte er, es würde sich bis zu ihm vorwagen. Im nächsten Moment schrillte eine Fahrradklingel auf dem Weg und das Rotkehlchen flog hinauf in den nächsten Baum und in den übernächsten und war verschwunden.

       13

      „Morgen Vormittag Cop Show im Stadtwald?“ Felix schloss gerade die Haustür auf, als ihn diese Nachricht von Pufu auf seinem Handy erreichte. Für den Querfeldeinlauf durch den Wald gaben sie sich die Namen von Kommissaren, Spionen oder Agenten, die sie sich vorher auf einer Liste ausgesucht hatten. Der Waldlauf machte irgendwie mehr Spaß, wenn man sich dabei vorstellte, einen Verbrecher zu jagen. Es war auf jeden Fall nicht der schlechteste Start ins Wochenende.

      „Okay, wann?“

      „Neun?“

      „Super!“

      Die Tür knallte hinter Felix zu, er lief nach oben und ging unter die Dusche. Dabei überlegte er sich, welcher Kommissar er morgen sein würde.

      Ich muss auf die Liste schauen, dreihundertvier Namen und wir haben noch längst nicht alle durch.

      Als er wenig später aus der Dusche trat, hörte er, dass Mama nach Hause kam.

      „Hallo?“, rief sie durchs Haus. „Jemand da?“

      Er traf sie in der Küche.

      „Du kommst aber spät heute!“

      Mama stöhnte. „Wir hatten kurz vor dem Schichtende einen Neuzugang, der partout nicht bleiben wollte. Hat immer wieder beteuert, er müsse noch das Auto in die Werkstatt bringen und seine Frau zum Friseur begleiten.“

      „Und das stimmte nicht?“

      Mama seufzte. „Der ist zweiundneunzig, seine Frau ist schon seit fünf Jahren tot und ein Auto hat er auch längst nicht mehr.“

      „Krass!“

      „Ja, so ist das Leben. Kann ja nicht jeder so fit sein wie Opa. Er hat übrigens heute Morgen angerufen und braucht Hilfe bei irgendwas. Ruf mal zurück. “ Mama nahm den Tee, den sie sich gekocht hatte, und steuerte auf die Tür zu, an der Felix lehnte. „Brauchst du noch was? Ich muss aufs Sofa.“ Felix ließ sie vorbeigehen, da drehte sie sich noch einmal um. „Deine Sporttasche liegt schon wieder da drüben im Flur. Wird das jetzt zur Gewohnheit? Und denk an Opa!“

      Damit zog sie ab ins Wohnzimmer. Felix schaute hinüber zum Eingangsbereich, er hatte die Tasche aus seinem Blick ausradiert, sie war ihm beim Heimkommen nicht aufgefallen.

       14

       Verdammtes Drecksstück! Es ist mir scheißegal, was du gekostet hast. Das war dem nassen Badezeug sowieso egal. Ich weiß, du kannst nichts dafür, aber für mich bist du gestorben. Geschieht dir ganz recht, die Kellertreppe hinuntergeworfen zu werden. Ist noch Platz in der Mülltonne? Okay, zwei Beutel raus, Tasche rein und die Beutel drüber. Hier kannst du verrotten und landest nach der nächsten Leerung hoffentlich in der stinkendsten Ecke auf der Kippe oder direkt im Verbrennungsofen. Komm mir ja nie wieder in die Quere!

       15

      Als Felix sich oben in seinem Zimmer aufs Bett warf, kam ihm ein anderer Gedanke. Eigentlich war es gut, dass die Tasche im Flur gelegen hatte. Mama war anscheinend automatisch davon ausgegangen, er wäre ganz normal beim Training gewesen. Dann gab es wenigstens keine neuen


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