Monster. Brigitte Jünger

Monster - Brigitte Jünger


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mir erstaunt in die Augen. Mama wollte nie nach Griechenland in den Urlaub. Zu teuer. Aber ich sehne mich danach, zu schnorcheln und mit den Fischen zu schwimmen. Das machen immer nur die anderen. Unten schlägt Mama die Wohnzimmertür zu. Sie ist immer noch wütend. Wahrscheinlich. Dass sie mir hinterherläuft und hier in meinem Zimmer auftaucht? Ne, das macht sie nicht. Sie läuft einem nie hinterher. Seit Papa weg ist, reagiert sie auf irgendwelche Wutausbrüche mit Eiseskälte. Tür zu und Schluss. Okay, manchmal kann sie auch ausflippen. Das war scheiße, die Tortellini auf dem Sofa und dem Teppich. Sie wollte ja nur lieb sein. Ich weiß es ja, es ist einfach nicht fair. Sie ist doch die Einzige, mit der immer alles gut geklappt hat.

       4

      Endlich konnte er weinen. Über alles. Über Mama, aber am meisten über sich selbst. Wie in einem Tunnel lief die Zeit in Sekundenschnelle im Rückwärtsgang und wieder stand er im Schwimmbad unter der Dusche. Weller hatte ihn länger trainieren lassen als die anderen. Der nächste Wettkampf stand in wenigen Wochen bevor. Erschöpft stand er endlich unter der heißen Dusche. – Cut! – Er wollte nicht länger hinschauen. Hier war Schluss.

       5

      Das Heft, die leere Seite, der Stift. Die Linie irrt umher und weigert sich, irgendeine Gestalt anzunehmen. Wie soll man einen Geruch zeichnen? Die Starre? Den Ekel? Wieso gelingt mir überhaupt gar nichts? Die Wut über mich selbst fließt in die Mine des Stiftes und kritzelt alles weg. Den Spind, das Handtuch, die Stille. Wieso war eigentlich niemand mehr da gewesen? Ich kritzele weiter und aus den wilden Strichen wird ein Gitter, ein Gefängnisgitter. Ich sperre alles in dieses tiefe, dunkle Verlies. Soll er dort verrecken.

       6

      Felix erwachte vom Gekeife der Krähen und Elstern, die sich im Baum vor seinem Fenster ein lautstarkes Wortgefecht lieferten. Seid ihr bescheuert?! Er warf die Bettdecke von sich und fasste sich unter den nass geschwitzten Pulli. Kein Wunder, wenn man mit allen Klamotten ins Bett geht! Halb acht. Er sprang auf und ging unter die Dusche. Zehn Minuten später kam er hinunter in die Küche, wo Mama schon saß und durch die Zeitung blätterte. Sie schaute kurz auf, sah dann aber wieder auf das Papier vor sich. Felix nahm sich einen Kaffee und setzte sich ihr am Tisch gegenüber.

      „Sorry.“

      Sie wusste, was er meinte, schaute aber nicht auf, sondern blätterte die Seite um, die sie gerade überflogen hatte. Dann erst blickte sie auf und landete punktgenau in seinen Augen. „Dein nasses Schwimmzeug steht auch immer noch im Flur.“

      Er schaute hinunter in seinen Kaffeebecher und nickte.

      „Ich geh nicht mehr.“

      „Schwimmen?“

      Er hatte sie aus dem Konzept gebracht. Merkte man deutlich. Das gefiel ihr nicht.

      „Nach sieben Jahren Training taugt der Sport jetzt plötzlich nicht mehr?! Ist irgendjemand besser als du?“

      „Ja, klar!“ Sofort war die Wut wieder da. Felix stand abrupt auf, schnappte sich seine Tasche und lief aus dem Haus. War ja klar. War ja sowas von klar.

       7

      Am Schultor hatten es die Fünfer, wie immer, besonders eilig. Sie wimmelten herum, mussten noch dieses und jenes erledigen und quasselten ohne Unterlass. Im Gegensatz dazu schlurfte Felix mit einer Schicksalsergebenheit durch das Gewusel auf dem Hof, die eine Gruppe Siebener für besondere Lässigkeit hielt und aus den Augenwinkeln heraus neiderfüllt bewunderte. Er war immerhin so etwas wie der Star der Schule, denn er hatte sie bei der letzten Schwimmmeisterschaft zum Stadtsieger gemacht und es sogar zu einer Erwähnung auf der Lokalseite der Zeitung gebracht. Felix nahm keine der herumstehenden Schülergruppen sonderlich wahr. Sie waren die Staffage, die zu jedem Schultag dazugehörte. Er ging über den Hof, ohne auf den Weg zu achten, den er schon tausende Male gegangen war, vertieft in die Frage, ob man ihm eigentlich etwas ansah. So lief er auf den rechteckigen Schulbau zu, vier Reihen Fenster übereinander, ein Eingang rechts, ein anderer links, dazwischen eine Reihe vernachlässigter Sträucher, zwischen denen Coladosen und Papier vergammelten. Genauso fühlte er sich auch. Benutzt. Man musste es ihm doch ansehen! Es stand doch in großen Buchstaben auf seiner Stirn geschrieben, für jeden sichtbar: Ich bin ein Dreck. Aber niemand beachtete die rotglühende Flammenschrift.

      „Hey, Hummuckel!“

      Noch ehe Felix das Schulgebäude erreicht hatte, umschlangen zwei dicke Arme die Mitte seines Körpers und das dazugehörige Gesicht drückte sich fest in seinen Bauch. Er roch nach Gummibärchen und war wie immer voll guter Laune. Felix sog seinen Geruch ein und drückte ihn ebenfalls.

      „Hallo Juri, altes Haus.“

      Der Junge hielt Felix weiter umklammert, hob aber nun den Kopf und sah zu ihm auf. „Quatschkopf du! Du dünner Hering. Ich bin doch ein junges Haus.“

      Er schmatzte beim Sprechen und die Worte kamen mit Pausen zwischen den Buchstaben aus seinem Mund. Dann hob er seine geschlossene Faust und Felix reagierte sofort und hielt ihm seine entgegen und sie klatschten sich ab, Faust an Faust. Gleich darauf fuhr Juri den Zeigefinger seiner rechten Hand aus und sagte:

      „Weißt du, dass Heringe die Lieblingsspeise vom Haifisch sind?“ Er grinste.

      Felix grinste mechanisch zurück.

      „Du hast wohl mal im Unterricht aufgepasst oder wie kommst du darauf?“

      „War gestern im Fernsehen“, antwortete Juri. „Die sind soooo gruselig, wenn die das Maul aufreißen!“ Er schüttelte sich. „Zum Glück bin ich kein Hering, sondern Astronaut!“

      „Astronaut?! Und wo sind dein Raumanzug und dein Helm?“

      Juri stemmte seine Fäuste in die Hüfte.

      „Brauch ich doch nicht! Wenn die Erde der Mond ist, kann ich doch ganz einfach Sauertopf atmen.“

      „Sauerstoff!“

      Juri schlenkerte mit seinen Armen. „Ja, genau, sag ich doch. Du Besserwürstchen.“ Er hob die Faust und sie klatschen sich wieder ab. „Bis dann“, sagte Juri, „und schwimm nicht so weit raus, okay!“ Im nächsten Augenblick breitete er seine Arme aus und lief als Flugzeug in Richtung des Schulhauses davon. Dabei zog er Schleifen nach links und nach rechts direkt auf die Gruppe der Siebener zu, die auseinanderstoben und „Spasti!“ riefen. Felix sah ihm grinsend hinterher.

      Ein einziges winziges Gen hatte Juri zu einem lebendigen Beispiel dafür gemacht, dass eben nicht alle Menschen auf die gleiche Weise normal waren. Aber was hatte seine Normalität für unglaubliche Vorteile! Für ihn gab es keine unsichtbaren Mauern, die andere selbstverständlich umgaben. Er trat auf jeden ohne Scheu zu und sagte, was er sagen wollte. Oder stellte sich zu einer Gruppe, die ihn auf irgendeine Weise anzog, einfach dazu, sagte Hallo und war dabei. All die tausend Bedenken, die jeder andere mit sich herumschleppte, schienen für ihn nicht zu existieren. Außerdem hatte er oft so eine Art siebten Sinn für das, was mit den anderen los war. Als besäße er einen geheimen Draht in das Innere der Menschen. Es war schwer, etwas vor Juri zu verheimlichen.

      Felix hatte zuerst einen Schreck bekommen, als Juri da eben auf ihn zu gekommen war. Aber wenn selbst er nichts gemerkt hatte, dann konnte Felix ziemlich sicher sein, dass niemand etwas bemerkte. Juris Seismografenblick konnte durchaus unangenehm sein – wie überhaupt der ganze Juri mit seiner tapsigen Gestalt, den schrägen Augen und dem meist offen stehenden Mund nicht überall auf große Gegenliebe stieß. Mongo war noch die harmloseste Bezeichnung, die die Schüler hinter seinem Rücken benutzten. Felix mochte ihn exakt deshalb, weil er anders normal war. Er war ein Lichtblick, genau wie Dahlmeier.

      Heute hätte er diesen Lehrer wirklich gebraucht. Einfach weil er so war, wie er war. Aber heute hatten sie kein Deutsch. Als Felix das Schulgebäude


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