Monster. Brigitte Jünger
„Du fährst nach Mutscheid zu Oma und Opa? Das ist ja mal eine gute Idee! Schade, dass ich Dienst habe, sonst könnten wir zusammen fahren.“
Felix stellte seinen Rucksack am Boden ab und setzte sich zu Mama an den Tisch.
„Ich glaube, sie brauchen Hilfe bei irgendwas im Garten. Und ich war ja auch schon echt lange nicht mehr da.“
Mama nickte. „Wahrscheinlich haben sie sich auch etwas wegen Opas Geburtstag überlegt und wollen das besprechen. Also, von mir aus können wir alles so machen, wie sie es sich wünschen. Aber nicht mehr als hundert Gäste. Das ganze Dorf einzuladen, wird zu teuer.“
„Schon klar.“ Felix stopfte sich ein Brötchen in den Mund.
„Aber hast du heute kein Training?“ Felix kaute und versuchte ruhig zu bleiben. Er nahm sich ein Stück von der Wochenendzeitung und sah stur an Mama vorbei.
„Nein. Ist doch nicht jeden Samstag.“
„Welchen Zug nimmst du?“
„Den um elf.“ Felix las den Sportteil und blätterte den Rest so durch, wie Mama beim Frühstück während der Woche. Da sah er die Schlagzeile: Die netten Männer von nebenan. Der Fall Bergisch-Gladbach. Felix sprang auf und lief hinauf in sein Zimmer. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Sieben, acht, neun, zehn. Er legte die Wange an die Fensterscheibe und zählte auch die Bäume auf dem Nachbargrundstück. Sein Handy brummte. „Bist du Leaphorn oder Santamaria?“ Scheiße, er hatte vergessen, Pufu abzusagen!
17
Felix nahm die S-Bahn zum Hauptbahnhof und war zu früh. Um sich die Zeit zu vertreiben, ging er nach draußen auf den Vorplatz und natürlich fiel sein Blick als Erstes auf die riesenhafte Kathedrale, die dort in unmittelbarer Nähe aus dem Boden wuchs. Auf den Treppenstufen, die zu ihr hinführten, saßen Leute in der Frühjahrssonne. Mitten auf dem Platz, wo einmal der Reibekuchenstand gewesen war, hatte ein Eierverkäufer seine Paletten aufgestellt. „Bauer Felix verkauft nur Eier von glücklichen Hühnern“ war auf einem Schild zu lesen. Felix drehte sich um und ging zurück zum Gleis. Was für ein schlechter Scherz, dachte er. Mein Name ist eine Lüge. Wer ist nur auf die saublöde Idee gekommen, mich so zu nennen? Meine Mutter oder mein verschollener Vater? Felix – der Glückliche? Das war einmal. Ich habe die Seiten gewechselt und gehöre jetzt zu denen, mit denen keiner tauschen will. Nicht mal sie selbst.
18
Der Zug war pünktlich und Felix verkroch sich in ein Abteil, in dem keine anderen Fahrgäste saßen. Die Fahrt dauerte etwa doppelt so lang wie mit dem Auto und führte durch eine grüne Hügellandschaft, die sich immer mehr von allem Städtischen entfernte. Wenn er als Kind mit seiner Mutter zu den Großeltern gefahren war und aus dem Zugfenster geschaut hatte, hatte er sich immer vorgestellt, sie würden eine Zeitreise machen und direkt ins Mittelalter hineinfahren. Im Städtchen, das Mutscheid am nächsten lag und in dem sie in den Bus umsteigen mussten, gab es tatsächlich eine Burg, eine alte Stadtmauer mit hohen, massiven Toren, und lauter spitzgieblige Fachwerkhäuser, die den Bach säumten, der mitten hindurch floss. Im Dorf der Großeltern jedoch, mit seinen gut hundert Einwohnern, war von all dem nichts mehr zu spüren. Hier waren nur noch Felder und Wege und der Wald, den Felix zusammen mit seinem Großvater auf der Suche nach Rittern, Pilzen, Feuersalamandern und essbaren Früchten durchstreift hatte. Als er jetzt aus dem Bus stieg, war das alte Kindheitsgefühl sofort wieder da. Felix atmete tief durch. Hier war er vor allem eines: Weit weg von allem.
Als er das wie immer unverschlossene Haus der Großeltern betrat, umfing ihn der vertraute Geruch und eine große Stille. Sie waren noch beim Mittagsschlaf. Felix stellte vorsichtig seinen Rucksack ab und schlich ins Wohnzimmer, um zu schauen, ob sie sich dort niedergelassen hatten. Da stand nur ein Kuchen auf dem Tisch. Er ging die Wände entlang und betrachtete alles, was dort hing, die Bilder, die der Großvater gemalt hatte. Der einsame Reiter durch die russische Steppe war eines seiner Selbstporträts, das liebte der Großvater am meisten. Daneben Zeichnungen, getrocknete Blumen, verschiedene große und kleine Ikonen, das Metallkreuz mit dem abgeschrägten Balken, das ihm im Krieg das Leben gerettet hatte, dazwischen auf einem Bord getöpferte Vasen und Becher. Das Museum ihres Lebens, ging es Felix durch den Kopf, dann ließ er sich in einem der abgewetzten Sessel nieder. Sie wollten nichts Neues, Moderneres. „Lohnt sich doch nicht mehr“, war seit Jahren der Standardspruch der beiden Alten, „das alles sind wir.“ Auf dem kleinen Tischchen neben dem Sofa stand er selbst in vielen verschiedenen Versionen, als Baby und Kleinkind, mit gebrochenem Arm und Eis in der Hand, mit Schultüte und in Badehose mit Wettkampfmedaille um den Hals. Felix drehte das Bild um. Schmerzlich wurde es ihm wieder bewusst. Er war eine Enttäuschung. Ein Versager, ein mühsam zusammengehaltenes Jenga-Spiel. Sie wussten es nur noch nicht. Draußen vor dem Fenster bewegte sich etwas. Erst da sah er, dass die Großeltern dort unter den Bäumen auf ihren Holzliegen lagen, zugedeckt mit graugrün karierten Decken, perfekt der Umgebung angepasst. Oma drehte sich zum Wohnzimmerfenster um und winkte ihm zu. Wie hatte sie nur gemerkt, dass er da war?
19
„Wir vereinsamen hier noch ohne dich.“
Felix nippte am heißen Tee und verstand sehr gut, was sie meinte. Endlich mal Abwechslung! Die Großeltern vereinsamten hier in diesem Dorf nämlich keineswegs. Jeden Tag kamen Freunde, Nachbarn, ehemalige Schüler oder verirrte Wanderer auf einen Schwatz vorbei oder weil sie sich Rat erbaten in den verschiedensten Dingen des Lebens. Oma Grete war noch ganz schön aktiv, ging zur Gymnastik, fuhr ins Schwimmbad, bemalte Gläser oder kochte Obst und Gemüse ein. Langeweile war ein Fremdwort für sie. Allerdings war sie auch zwanzig Jahre jünger als Opa Wolf. Mit seinen weit über neunzig Jahren war er im Laufe der Zeit immer kleiner und hutzliger geworden. Immer öfter schlief er tagsüber in seinem Sessel ein. In seine Töpferwerkstatt im Keller ging er kaum mehr. Das war einmal Felix’ Lieblingsort gewesen und er hatte sich gewünscht, dass der Großvater ihm das Töpfern beibrächte. Doch je mehr er Schwimmen gegangen war, desto weniger Zeit hatte er gehabt, nach Mutscheid zu fahren.
„Was macht die Schule? – Hast du deine Zeichnungen dabei? Gibt es neue? – Wie geht es deiner Mutter? – Hast du genug Platz im Rucksack, dann gebe ich dir ein paar Gläser eingemachte Kirschen mit!“ Oma Grete war für ihre vielen Fragen bekannt. Sie wollte das Gespräch stets am Laufen halten und möglichst viel über sein Leben in der fernen Stadt erfahren, in die sie nur noch sehr selten kam. Felix beantwortete die Fragen kurz und knapp und berichtete das Nötigste, damit er möglichst schnell wieder in den großelterlichen Kosmos eintauchen konnte.
„Habt ihr schon überlegt, wen ihr zu Opas Geburtstag einladen wollt?“ Es war nicht schwer, ein Gesprächsthema zu finden, das in harmlosere Gebiete führte und Oma und Opa waren schnell bei der Sache und gerieten in Aufregung über das bevorstehende Fest.
„Der Schützenverein wird sicher vor der Tür stehen und ein Ständchen bringen, aber die können wir nicht auch noch alle einladen“, fiel Oma Grete ein. „Einen Schnaps müssen sie allerdings bekommen, da müssen wir dran denken. Kannst du das mal aufschreiben bitte!“
Felix holte Zettel und Stift. Nichts leichter als das. Sie planten, aßen Kuchen und taten bald das, was sie immer taten, wenn Felix zu Besuch war. Die Großeltern zeigten ihm den Garten, diskutierten, was sie für ihn kochen könnten, stöhnten über ihre alten Knochen und darüber, was eigentlich an ihrem Haus alles gemacht werden müsste. Sie kramten das abgegriffene Mensch ärgere dich nicht-Spiel hervor, freuten sich über jeden Spielstein, den sie rauswerfen konnten oder stritten sich abends bei einer Rateshow im Fernsehen über die richtigen Antworten, bevor der Moderator den Streit entschied.
„Das Holz hacke ich dann morgen früh!“
Oma Grete nickte. „Magst du mal den Wolf in sein Bett bringen? Dann räume ich noch die Küche auf.“