Monster. Brigitte Jünger
ihm über den großen Flur bis in sein Zimmer.
„Mach das Fenster weit auf“, bat er, „damit ich im Wald schlafen kann.“
Felix musste lächeln. Der Opa und sein Wald!
„Fühlst du dich dann wieder wie in Russland?“ Opa Wolf, der mit erstaunlicher Geschwindigkeit seine Klamotten ausgezogen hatte und gerade in Unterhemd und langer Unterhose unter die Bettdecke kroch, sagte: „Ein bisschen.“
Dann winkte er Felix zu sich heran auf die Bettkante. Er nahm seine Hand und schaute ihn aus seinen blauen Augen an.
„Hast du Kummer?“
Felix musste schlucken. So ein altmodisches Wort! Die blöden Tränen ließen sich einfach nicht zurückhalten. Er wusste nicht, ob der Opa ihn zog oder ob er von allein auf seinen Arm sank. Als er sich wieder aufsetzte, sah es so aus, als würde Opa Wolf schlafen. Er wollte seine Hand loslassen, aber da merkte er, dass er sie festhielt.
„Kannst du nicht drüber reden?“
Felix schüttelte den Kopf. Die kleine alte Hand des Großvaters drückte seine wieder. „Verstehe ich. Manchmal sind Worte zu klein.“
Felix wischte sich mit der freien Hand die Tränen aus den Augenwinkeln.
„Du schaffst das.“
21
Ich sitze auf dem Baumstumpf, auf dem ich gerade noch das Holz gehackt habe, das Beil zwischen meinen Füßen. Mir tun die Arme weh, aber es tut so gut, das Beil über den Kopf zu heben und dann mit voller Kraft in das Holz zu schlagen und es klein zu hauen. Alles, alles kann man damit klein hacken. Jetzt sitze ich hier und schaue über das Dorf mit seinem weißen Kirchturm, der wie ein Bleistift in die Höhe ragt. Muss sich immer alles in sein Gegenteil verwandeln? Können wir gar nicht anders, als schuldig zu werden? Kommen wir schon so auf die Welt? Aber wie wird man das wieder los? Schlafen geht hier so gut wie schon lange nicht mehr. Am liebsten würde ich bleiben. Dann hat Opa Wolf immer jemanden zum Holzhacken im Haus und muss nicht warten, bis einer der Nachbarn mal Zeit hat. Und ich könnte Oma Grete im Garten helfen. Morgens fahre ich mit dem Bus in den nächstliegenden Ort, dort gibt es auch ein Gymnasium. Vielleicht hat Alva ja mal Lust, mich zu besuchen.
22
„Felix, wir müssen los, sonst verpasst du den Bus. Der fährt heute nur einmal in der Stunde.“ Felix nahm seinen Rucksack und gab Opa Wolf seine schmerzende Hand. Auf der Innenfläche hatten sich zwei Blasen gebildet.
„Komm bald wieder“, sagte der Großvater, „hier ist immer Platz für dich.“
Kurze Zeit später stand er mit der Großmutter an der Bushaltestelle.
„Noch fünfzehn Minuten“, sagte sie mit schuldbewusster Stimme, „wie immer zu früh! Komm, lass uns noch eine Runde durchs Dorf gehen.“
In fünfzehn Minuten hätte man locker auch zwei Runden geschafft. Felix war es recht, geduldig hörte er sich an, wer gestorben war, was die Nachbarn machten und wann der Chor das nächste Konzert geben würde. Alles hatte seine Ordnung.
„Schau mal da drüben“, sagte sie und wies auf ein Haus am Dorfrand, „der alte Hof von Meiers Dietrich ist wieder vermietet. Stell dir mal vor!“
Felix schaute hinüber und betrachtete das Haus und die Wiesen, die es umgaben. Er erinnerte sich so gut daran, wie er dort in der windschiefen Scheune des alten Dietrich mit den anderen Kindern des Dorfes herumgeklettert war. Obwohl es strengstens verboten war, waren sie dort vom obersten Balken ins frische Heu gesprungen, immer und immer wieder. Das Heu roch so gut, man konnte einfach nicht genug davon bekommen.
Plötzlich stutzte Felix, als er den Zaun des Hofes betrachtete. Merkwürdige bunte Zeichen schwebten dort auf den hölzernen Latten herum.
„Sag mal, Oma, was ist das denn? Sind das Buchstaben?“
Die Großmutter lachte. „Da wohnt jetzt eine Künstlerin. Die steckt diese großen bunten Holzbuchstaben jede Woche in anderen Kombinationen auf ihren Zaun. Kannst du lesen, was da steht?“ Felix strengte seine Augen an. Was hängt wie zusammen?, las er. Ein Stückchen weiter stand: Wie weit reichen deine Worte? Auch auf eines der Fenster war in großen Buchstaben ein Satz gemalt: Wann beginnt das Ende? Verrückt! Plötzlich sahen sie, dass am Dorfeingang der Bus auftauchte und beeilten sich, rechtzeitig zur Haltestelle zu kommen.
23
Felix stieg aus dem Zug und fühlte sich sofort entsetzlich müde und erschöpft. Das ganze Wochenende war es ihm nicht so gegangen. War das immer noch vom Holzhacken? Auf die S-Bahn musste er nicht warten und war zehn Minuten später in seinem Vorort. Als er die Station verließ, traf er auf dem Platz davor auf Juri, der mit seinem Fahrrad immer die gleichen Runden drehte. Als Juri Felix aus dem Gebäude kommen sah, sprang er vom Sattel und ließ das Rad, wie immer, allein weiterlaufen, bis es von irgendeinem Gegenstand gestoppt wurde oder einfach umfiel. Ein Fußgänger musste ausweichen und schimpfte ins Leere, denn er hatte nicht gesehen, wer das Rad einfach losgelassen hatte. Juri blieb breitbeinig vor Felix stehen.
„Warst du in Amerika?“, rief er. „Warum hast du mich nicht mitgenommen?“
Felix lächelte gequält.
„War es nicht schön?“
Warum konnte der Mongo ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
„Du hast wohl keine Lust auf zu Hause, was?“
Scheiße, Felix wollte ihn nicht so nennen.
„Soll ich dich ein Stück auf meinem Fahrrad mitnehmen?“
Felix sah hinüber zum Rand des Platzes, wo das Rad im Grünzeug hängen geblieben war. „Aber nur, wenn du nicht wieder wie ein Kamikaze-Pilot einfach abspringst!“
„Okay!“ Juri hob seinen Daumen, lief hinüber zu seinem Fahrrad und pflückte es aus dem Gebüsch.
Felix schwang sich auf den Gepäckträger. „Alles klar, Juri, fahr los!“
24
Monday, Monday … Würde das ein guter Tag werden? Montage sind eigenartig, ganz anders jedenfalls als andere Wochentage. Sie sind der Einstieg in eine lange Zeitstrecke, von der man nicht weiß, wie sie im Einzelnen aussehen wird. Okay, man weiß, dass am Ende Freitag ist, aber das ist auch alles. An einem Montag kann man sich auf den Rest der Woche freuen oder ihn fürchten. Schlimmer finde ich es, wenn man weder das eine noch das andere tut. Dann ist der Montag wie ein vereister See, den man betritt und nicht weiß, wo die dünnen Stellen sind. Die, an denen man einbricht. Darüber muss ich gerade nachdenken, als ich den Geranienweg verlasse und Richtung Schule abbiege. Denn es ist doch so: Würde ich einen Kalender besitzen, hätte da bisher fast an jedem Tag „Training“ gestanden. Aber das brauchte ich mir nicht aufzuschreiben, denn es war ja schon jahrelang so. Es war einfach in meinem Kopf. Jetzt ist da ein schwarzer Fleck. Zugesperrt und vernagelt. Betreten verboten. Ich frage mich: Was mache ich jetzt mit diesen ausradierten Stellen in meinem Kalender? Ganz schön viel Zeit, die sich da plötzlich auftut. Vor allem muss ich wegen Mama aufpassen. Sie wird es nicht akzeptieren, dass ich nicht mehr schwimmen gehe. Ich muss mir also etwas einfallen lassen. Meinte Opa das mit seinem: „Du schaffst das schon“?
25
„He, Felix, guten Morgen! Schläfst du noch?“
Er drehte sich nach der Stimme hinter ihm auf dem Gehweg um.
„Alva!“
„Ich hab dir vorhin an der Ecke schon