Energiepolitik und Elektrizitätswirtschaft in Österreich und Europa. Axel Kassegger
Gesetzgebungsverfahren“ umbenannt. Seitdem wird es als Beschlussfassungsverfahren für die Annahme der meisten Rechtsvorschriften der EU angewandt. Es gilt für rund 85 Politikbereiche. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren läuft grundsätzlich in folgenden Schritten ab37:
1. Die Kommission unterbreitet dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag.
2. Der Rat und das Parlament nehmen einen Gesetzgebungsvorschlag entweder in erster oder in zweiter Lesung an.
3. Erzielen beide Organe in zweiter Lesung keine Einigung, wird ein Vermittlungsausschuss einberufen.
4. Ist die vom Vermittlungsausschuss vereinbarte Fassung in dritter Lesung für beide Organe annehmbar, wird der Rechtsakt erlassen.
Wird ein Gesetzgebungsvorschlag zu einem beliebigen Zeitpunkt des Verfahrens abgelehnt, oder können das Parlament und der Rat keinen Kompromiss erzielen, so wird der Vorschlag nicht als Rechtsakt erlassen und das Verfahren endet. Das Recht, einen Gesetzesvorschlag zu machen, das legislative Initiativrecht, kommt der Kommission38 zu. Das Europäische Parlament und der Rat haben dieses Recht nicht.
Neben dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gibt es noch das Zustimmungsverfahren: Auf Vorschlag der Kommission einigt sich der Rat auf ein Gesetz, das er dem Europäischen Parlament zuleitet. Das Parlament hat zwar keine Möglichkeit, Änderungsvorschläge zu machen, muss aber dem Gesetz seine Zustimmung erteilen. Dieses Verfahren, das dem Parlament gleichsam ein Vetorecht zuweist, greift unter anderem bei völkerrechtlichen Verträgen der EU mit Drittstaaten, die erhebliche finanzielle Folgen für die Gemeinschaft haben, bei Verträgen zum Beitritt oder zur Assoziierung weiterer Staaten. Auch bei der Erweiterung der Befugnisse der Europäischen Zentralbank und der Festlegung eines einheitlichen Verfahrens für die Europawahl muss das Parlament seine Zustimmung geben. Weitere mögliche Verfahren von untergeordneter Bedeutung sind das Anhörungs- oder Konsultationsverfahren und das Verfahren der Zusammenarbeit.
Quelle: Eigene Darstellung; Daten aus: https://eur-lex.europa.eu/statistics/legal-acts/2018/legislative-acts-statistics-by-type-of-act.html
Obenstehende Graphik gibt einen Überblick über die Anzahl, Art und erlassende Institution aller Rechtsakte der Europäischen Union in den Jahren 2015–2018.
Demokratiepolitisch interessant sind die Abstimmungsregeln und Quoren im Rat. Alle Beratungen und Abstimmungen des Rates sind öffentlich. Für die Annahme von Beschlüssen ist in der Regel eine qualifizierte Mehrheit ausreichend. Diese ist erreicht, wenn mindestens 55 % aller Länder (das sind derzeit 16 von 28, bei einem Austritt des Vereinigten Königreichs würden dann schon 15 von 27 reichen), die außerdem mindestens 65 % der EU-Gesamtbevölkerung stellen, zustimmen. Zur Verhinderung eines Beschlusses sind mindestens 4 Länder erforderlich, die mindestens 35 % der EU-Gesamtbevölkerung stellen. In ausgewählten Bereichen (etwa Außenpolitik oder Steuern) ist Einstimmigkeit im Rat erforderlich.
Das 3. Energiebinnenmarktpaket 2009
Ein großer Fortschritt zur Verwirklichung des Energiebinnenmarktes wurde am 13. Juli 2009 in der Schaffung eines EU-weiten institutionellen und regulatorischen Rahmenwerks mit der Verabschiedung des „3.Energiebinnenmarktpakets“ 2009 durch das Europäische Parlament und den Rat erreicht.
Neben der „3. Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie“39 und der „3. Gasbinnenmarktrichtlinie“40 regelte das Paket durch 3 Verordnungen die Netzzugangsbestimmungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel41, die Bedingungen für den Zugang zu Erdgasfernleitungsnetzen42 und die Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER)43. Das 3. Energiebinnenmarktpaket 2009 brachte folgende Verbesserungen und Neuerungen:
• Die weitere Umsetzung der Trennung von Erzeugung, Netzbetrieb, Verteilung und Stromhandel, nunmehr auch auf der Ebene des Eigentums44.
• Eine Stärkung der Überparteilichkeit, Transparenz und Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden.
• Eine Erhöhung der Kundenrechte in Bezug auf Informationen und leichteren Wechsel des Anbieters.
• Die Gründung eines Europäischen Verbands der Übertragungsnetzbetreiber für Strom, dem „European Network of Transmission System Operators for Electricity, ENTSO-E“45.
• Die Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, der „Agency for the Cooperation of Energy Regulators“ (ACER)46.
Inhaltlich ist auch die am 21. Oktober 2011 beschlossene REMIT-Verordnung47, mit der unter anderem die Aufgabenbereiche von ACER um das Monitoring über die Großhandelsmärkte erweitert wurden, noch dem 3. Energiebinnenmarktpaket zuzurechnen.
In Österreich wurden die Änderungen im Strombereich durch eine Novelle zum El-WOG 2010 und durch das Energie-Control-Gesetz 201048 in nationalstaatliches Recht umgesetzt. Mit einer weiteren Novelle zum ElWOG am 7. August 201349 wurden die Struktur und Kompetenzen der E-Control, Konsumentenschutzrechte und Rechtsschutznormen den Bestimmungen des 3. Binnenmarktpakets angepasst.
Die Verwirklichung des Energiebinnenmarktes für Strom und Gas war seit dem Vertrag von Maastricht 1992 bis zum 3. Energiebinnenmarktpaket 2009 das dominierende strategische Ziel der Europäischen Union. Dieses Ziel war nun weitestgehend erreicht.
Demnach kann in weiterer Folge das Augenmerk auf die weiteren drei primären Ziele der Energiepolitik der Europäischen Union und deren Entwicklung von der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2016 gelegt werden:
• Nachhaltigkeit
• Wettbewerbsfähigkeit
• Versorgungssicherheit
Das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit ist zentrales Element der Verwirklichung des Energiebinnenmarktes für Strom und Gas. In ihm ist das Ziel der Wirtschaftlichkeit implizit enthalten, da nach Ansicht der EU der Energiebinnenmarkt eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Marktes bringt und damit der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft helfen wird, die Preise so niedrig wie möglich zu halten und die Angebotsstandards für die Kunden zu erhöhen.
Daher wird in den nächsten beiden Kapiteln die Entwicklung der Energiepolitik der Europäischen Union hinsichtlich der Ziele Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit in der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft bis zum Jahr 2016 dargestellt, wobei festgestellt werden kann, dass die Verwirklichung des Energiebinnenmarktes auch erhebliche positive Effekte auf das Ziel der Versorgungssicherheit hat, da viele Vorschriften der Binnenmarktpakete auch gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen zur Vermeidung einer Unterbrechung der Energieversorgung vorsehen.
DIE UMSETZUNG DER VERSORGUNGSSICHERHEITSZIELE BIS 2016
Das Ziel der Sicherstellung der energiepolitischen Versorgungssicherheit war seit Anbeginn des europäischen Integrationsprozesses im Jahr 1951 ein zentrales europäisches Thema. Über lange Jahrzehnte war es jedoch auf die beiden wichtigsten Primärenergieträger Kohle und Erdöl beschränkt. Erst mit dem Vertrag von Maastricht 1992 und den ab dann entwickelten energiepolitischen Zielen der Europäischen Union rückte die Elektrizitäts- und Gaswirtschaft in den Fokus. Nachfolgend werden die für diese beiden Bereiche der Energiewirtschaft relevanten Entwicklungen dargestellt.
Im Grünbuch der Kommission vom 29. November 2000 „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“50 wird zunächst vor allem die Gefahr der Importabhängigkeit Europas von fossilen Energieimporten aus Russland und dem Nahen Osten angesprochen. Interessant ist, dass bereits in diesem Dokument Maßnahmen zur Eindämmung des Energieverbrauchs und Investitionen in erneuerbare Energien unter dem Gesichtspunkt