Das Buch Jesaja. Ulrich Berges

Das Buch Jesaja - Ulrich Berges


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Verhältnis JHWHs zu seinem Volk ergibt. Dem Propheten, der selbst aus der Oberschicht stammt, ist jegliche Arroganz zutiefst zuwider: »Ja, ein Tag für JHWH Zebaot kommt über alles Stolze und Hohe, über alles Erhobene – es wird erniedrigt!« (2,12). Diese Thematik durchzieht die Kap. 1–39 und gehört zu den Grundpfeilern seiner Verkündigung und ihrer Fortschreibung (vgl. 2,12–17; 3,16–24; 5,15; 9,8; 10,12.33; 13,11.19; 14,11.13; 16,6; 23,9; 25,11; 28,1.3; 37,23).

      Zumindest die Selbstberichte in der sogenannten Immanuelschrift (6,1–8,18) werden von der Mehrzahl der Ausleger dem Propheten belassen. Dass der Text nach der Überschrift (1,1) mit 6,1 zum ersten Mal eine weitere chronologische Notiz bietet, markiert eine deutliche Zäsur. Die Geschichtlichkeit des sogenannten syrisch-efraimitischen Krieges (734–732) wird in der jüngeren Forschung immer mehr bezweifelt. Dies tut aber der Tatsache keinen Abbruch, dass die Überlieferung dem Propheten Jesaja für die Zeit der zunehmenden Bedrohung durch das assyrische Reich eine besondere Rolle zuweist. Nicht um Geschichte geht es den Verfassern der Immanuelschrift, sondern um die theologische Aussage, dass wahre Sicherheit nicht auf politischen Bündnissen, sondern auf dem Vertrauen auf JHWH gründet. Genau diese Weisung (»Tora«) versiegelt der Prophet in seinen Schülern (8,16), zu denen auch die aufmerksamen Leserinnen und Leser des Jesajabuches gehören!

      Wie politisch engagiert Jesaja seine prophetische Sendung verstanden hat, lässt sich gut an der Zeichenhandlung ablesen, die er während der Aufstände der philistäischen Städte unter Leitung Aschdods in den Jahren 713–711 ausführte (Jes 20,1–6). Erneut versuchten die Nachbarn, den kleinen judäischen Staat mit der Hauptstadt Jerusalem in einen Aufstand gegen Assur zu verwickeln. Dagegen protestierte der allseits bekannte Jesaja in höchst provokanter Weise: Drei Jahre lang lief er »nackt« und »barfuß«, d.h. wie ein Kriegsgefangener in Jerusalem als »Zeichen und Mahnmal« umher. Seine Botschaft war klar: Wer sich auf einen anti-assyrischen Aufstand einlässt und dabei auf militärische Unterstützung durch Ägypten hofft, wird als Kriegsgefangener enden! Diese werden in altorientalischen Reliefs – falls es sich um männliche Gefangene handelt – meist nackt dargestellt.

      Ein weiteres biographisierendes Textelement stellt Jes 22 dar, wo Jesaja den völlig deplatzierten Jubel der Jerusalemer Bevölkerung scharf verurteilt. Die Szene lässt sich am besten auf das Ende der Aufstandsbewegungen im Jahre 711 beziehen. Der judäische König Hiskija, der sich noch rechtzeitig von der Rebellion seiner Nachbarn distanziert hatte, rettete sich und Jerusalem in allerletzter Minute.

      Im Hintergrund der Kapitel 28–39 steht die politische Lage der Jahre 705–701, in denen Juda erneut versucht war, seine Loyalitätspflicht gegenüber Assur durch eine Allianz mit Ägypten aufzukündigen (vgl. 31,1ff.). Die Notizen über die öffentliche Tätigkeit Jesajas kulminieren in den Berichten über sein Auftreten während der Belagerung Jerusalems durch die Truppen Sanheribs im Jahre 701. Die biblische Überlieferung spricht davon, dass der Äthiopier Tirhaka in Richtung Jerusalem gezogen, woraufhin Sanherib zeitweilig von Jerusalem abgerückt sei (37,9; 2 Kön 19,9). Damit liegt jedoch eine Mischung von geschichtlichem Faktum, Halbwahrheit und Unwahrheit vor: Wahr ist, dass es zu einer Schlacht zwischen assyrischen Kräften und dem Hilfskontingent aus Ägypten bei Elteke gekommen ist. Unwahr ist, dass Tirhaka damals bereits den Königstitel trug, denn im Jahre 701 war noch sein Bruder Schebitku (Schabataka) an der Macht. Doch könnte Tirhaka als Zwanzigjähriger am Kampf mit den Assyrern teilgenommen haben. Nach der Schlacht von Elteke schlug Sanherib sein Hauptlager in Lachisch auf und belagerte damit die wichtigste Stadt auf dem Weg nach Jerusalem. Die Situation von Jerusalem und ihrem König Hiskija war daraufhin hoffnungslos. Die assyrischen Annalen sprechen davon, dass 46 Städte in Juda erobert und 205.105 Gefangene weggeführt worden seien37, während Hiskija wie ein Vogel im Käfig eingeschlossen sei. Hiskija blieb nichts anderes übrig, als sich dem Großkönig Sanherib zu beugen und die exorbitante Tributlast von 810 kg Gold und 8.100 kg Silber auf sich zu nehmen. Sowohl die assyrischen Annalen als auch die biblischen Texte stimmen darin überein, dass es in Jerusalem, im Gegensatz zu Lachisch, nicht zu einer regulären Belagerung, sondern nur zu einer Blockade der Stadt gekommen war. Dass Sanherib weder einen Pfeil in die Stadt schoss, noch einen Wall gegen sie aufschüttete, machen die biblischen Verfasser in 2 Kön 19,32; par. Jes 37,33 post factum zum Beweis für den göttlichen Schutz in allergrößter Not. Obwohl es in den assyrischen Quellen heißt, Hiskija habe den Tribut Sanherib nach Ninive hinterhergeschickt, hat das nicht etwa mit einem überstürzten Abzug des Assyrers aus Juda zu tun, sondern damit, dass er Wichtigeres zu tun hatte, als darauf zu warten, bis Hiskija die ihm auferlegte Menge an Gold und Silber unter größten Mühen zusammengebracht hatte. Nach 2 Kön 18,16 musste Hiskija die Türen des Tempels und die mit Gold und Silber überzogenen Pfosten zerschlagen lassen, um die Edelmetalle nach Assur abliefern zu können. Von dieser Tributzahlung will die Jesaja-Überlieferung nichts wissen und lässt die Notiz von 2 Kön 18,14–16 einfach aus. Im Jesajabuch rettet Hiskija sich und Jerusalem nicht durch eine Tributzahlung, sondern durch die Fürsprache des Propheten und das Gebet des frommen Königs!

      Die Tatsache, dass Sanherib auch nach 701 sehr aktiv blieb und keineswegs an militärischer Kraft eingebüßt hatte, verweist den Tod von 185.000 Assyrern vor den Toren Jerusalems durch JHWHs Boten ins Reich der Legenden (2 Kön 19,35–37; Jes 37,36–38; 2 Chr 32,21–22).38 Dass noch Flavius Josephus ein Gebiet im Nordwesten Jerusalems als »Heerlager der Assyrer« bezeichnet, in dem dann auch Titus im Jahre 70 n.Chr. sein Lager aufgeschlagen habe, spricht für die Langlebigkeit der biblischen Fiktion bezüglich der Niederlage Assurs vor den Toren der Gottesstadt (vgl. 1 Makk 7,41; 2 Makk 8,19; 15,22; Sir 48,21).

      Der Abzug Sanheribs wurde von den Tradenten des Jesajabuches zum historischen Beweis für den unverbrüchlichen Schutz JHWHs für Zion und Jerusalem stilisiert. Dazu passte natürlich keine Tributzahlung des frommen Königs! Allzu gern hätten die biblischen Autoren wohl auch Sanherib unter die toten Assyrer gerechnet, der es gewagt hatte, Jerusalem und JHWHs Tempel, den irdischen Wohnort des himmlischen Weltenkönigs anzugreifen. So stark ließ sich die Weltgeschichte dann aber doch nicht umschreiben! Zumindest reichte es, ihn im eigenen Tempel von seinen Söhnen ermorden zu lassen (Jes 37,38; par. 2 Kön 19,37). Dass Sanherib durch die Hand seiner Söhne getötet wurde, ist zwar historisch korrekt. Dies geschah jedoch nicht schon kurz nach 701, sondern erst im Jahre 681.

      Die Jerusalemer Jesaja-Tradition muss in der langen Regierungszeit Manasses (697–642) bewahrt und gepflegt worden sein. Die Legende vom Martyrium des Propheten unter diesem König gibt davon zumindest ein indirektes Zeugnis ab. Jesajas Mahnung, Juda solle sich anti-assyrischer Koalitionen enthalten, fiel bei Manasse sicherlich auf fruchtbaren Boden, nicht aber sein ebenso grundsätzlicher Appell, sich allein auf JHWH zu verlassen. Hiskijas Sohn steuerte einen realpolitischen Kurs und unterwarf sich voll und ganz der assyrischen Großmacht. Zum Zeichen seiner Vasallentreue ließ er in beiden Tempelvorhöfen »Altäre für das ganze Heer des Himmels« bauen (2 Kön 21,5).

      Nach dem Tod Assurbanipals (669–627) ging das assyrische Großreich nicht zuletzt wegen des Erstarkens der Meder (Kyaxares, 625–585) und der Neubabylonier (Nabopolassar, 626–605) sehr schnell dem Ende entgegen. Im Jahre 614 fällt die Stadt Assur und 612 die assyrische Hauptstadt Ninive durch eine Koalition der beiden aufstrebenden Mächte. In dieser Endphase des assyrischen Reiches gelang es dem judäischen König Joschija (639–609), die staatliche und kultische Unabhängigkeit Judas und Jerusalems wiederherzustellen. Er machte die Assimilationspolitik seines Großvaters Manasse rückgängig, führte eine tief greifende Kultreform durch und entfernte alle Symbole assyrischer Gottheiten aus dem Jerusalemer Tempel (2 Kön 22–23). In der modernen Forschung gehen viele Ausleger davon aus, dass in den Jahrzehnten unter Joschija die Jerusalemer Jesaja-Tradition, die unter Manasse nur unterschwellig tätig sein konnte, einen großen Wachstumsschub erhielt, und zwar unter dem Eindruck der sich erfüllenden Gerichtsansage gegen das assyrische Weltreich. In seiner einflussreichen Monographie »Die Jesaja-Worte in der Josiazeit« spricht Hermann Barth von einer »Assur-Redaktion«, die u.a. 8,23b–9,6; 10,16–19; 14,20b–27; 17,12–14; 28,23–29; 30,27–33; 31,5.8b–9; 32,1–5.15–20 umfasst. Auch Jacques Vermeylen nimmt eine redaktionelle Überarbeitung in der Zeit des Joschija an (u.a. 2,2–4; 7,15; 8,23b–9,6a; 11,1–5; 22,19–23). In der englischsprachigen Exegese wurde dieser Ansatz besonders von Martin Sweeney aufgenommen39 und auf weitere Texte ausgedehnt (Jes 7; 11; 27; 32; 36–39), so auch


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