Das Buch Jesaja. Ulrich Berges

Das Buch Jesaja - Ulrich Berges


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Kapitel 36–39 seien ein historisches Supplement (vgl. 2 Kön 18–20), das die Sammlung beschlossen habe.65 Für Jes 40–55 geht Vermeylen von einer relativen Geschlossenheit dieser exilisch-nachexilischen Komposition aus, die nach 480 mit der protojesajanischen Sammlung verbunden worden sei. Für den letzten Teil des Jesajabuches verzichtet er auf das Postulat eines Einzelpropheten »Tritojesaja«, sondern geht für diese Kapitel gänzlich von schriftgelehrter Prophetie aus. Der Kern der Aussage von Kap. 60–62 beziehe sich nicht auf den Tempelwiederaufbau, sondern auf die Errichtung der Jerusalemer Stadtmauern (60,10; 62,6), was gut in die Zeit Nehemias passe. Die Bezüge zielten nicht nur auf 40ff. ab, sondern beträfen schon die vorderen Kapitel. So wäre 56,9–62,12 Schritt für Schritt mit Blick auf 1,2–2,5 verfasst worden. Eine großjesajanische Redaktion sei nach der Zeit Nehemias für die jetzt vorliegende Endgestalt des gesamten Buches verantwortlich. In vielzähligen Detailstudien kommt Steck zu analogen Ergebnissen. Auch er hält die tritojesajanischen Kapitel für reine Fortschreibungsprophetie, was bei Kap. 60–62 mit den Rückverweisen auf Jes 40ff. besonders deutlich zu Tage trete. Den Zusammenschluss mit der protojesajanischen Sammlung setzt Steck aber deutlich später als Vermeylen an. Dieser sei erst im Zuge einer sogenannten »Heimkehr-Redaktion« erfolgt (vgl. 11,11–16; 27,[12].13; 62,10–12), in einer frühen Phase der Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexanders des Großen (323). Als Brückentext zwischen den beiden Großteilen sei Jes 35 eigens für die Gesamtrolle verfasst worden.66 In der Zeit der Konsolidierung unter den Ptolemäern (ca. 270) seien noch kleinere Ergänzungen eingefügt worden, die jedoch nicht mehr strukturbildend gewirkt hätten (vgl. 19,18–25; 25,6–8).

      Die diachrone Gesamthypothese von Ulrich Berges67 zielt in die gleiche Richtung, doch versteht er bereits Jes 33 als ersten Brückentext. Dabei kann er auf die Untersuchung von Willem Beuken zurückgreifen, der dieses Kapitel als »Spiegeltext« bezeichnet, in dem sich das ganze Buch wie in einem Prisma spiegelt. Einschränkend ist zu sagen, dass die Verweise zu den nachfolgenden Kapiteln deutlich geringer ausfallen als die zu den vorangegangenen.68 Für Steck ist Jes 35 der Text schlechthin, der die Brücke zwischen den beiden Großteilen des Buches schlägt.69 Das Kapitel erfülle zweierlei Aufgaben: Zum einen stelle es mit der hellen Zukunft für Zion ein Gegenbild zur dunklen Vernichtungsszene gegen Edom in Jes 34 dar, zum anderen verweise es deutlich auf die Heilsverkündigung ab Jes 40ff.

      Die Brückentexte in Jes 33 und 35 sind kompositionstechnisch aber nur dann sinnvoll, wenn die Hiskija-Sanherib-Erzählungen in Jes 36–39 – wie auch immer ihr Verhältnis zu 2 Kön 18–20 zu bestimmen ist – noch nicht in die Mitte der Jesajarolle eingestellt worden waren. Wäre es anders gewesen, hätte man die Brückentexte doch eher hinter Jes 36–39 platziert!

      Das Interesse an Jes 36–39 für die Gesamtanlage des Jesajabuches geht besonders auf Peter Ackroyd zurück. Demnach weist die Erzählung der babylonischen Delegation am Ende der Berichte über Krankheit und Heilung von König Hiskija auf die Exilsgeschehnisse voraus, die den Hintergrund von 40ff. bilden.70 Die Auslassung der Notiz über die Tributzahlung, durch die der König sich, seine Familie und ganz Jerusalem vor den Truppen Sanheribs rettete (2 Kön 18,14–16), und die Einfügung des Hiskija-Psalms (Jes 38,9–20) werden auf das Konto derer gehen, die diese Kapitel in die Mitte der Jesajarolle einstellten. Offenbar wollte man alle Traditionen, die Jesaja betrafen, in einer Rolle zusammenfassen. Dies war der letzte Schritt, durch den Jesaja zum Mahner, Heiler und Visionär wurde, dem nichts mehr am Herzen lag als das Heil und die Rettung der Frommen auf dem Zion.

      Die ersten Versuche einer Gesamtbetrachtung kamen aus der englischsprachigen Exegese. So setzte William Brownlee in Weiterführung der Arbeit von Leon Liebreich bei der Beobachtung an, dass es in der großen Jesajarolle von Qumran (1QJesa) eine deutliche Zäsur zwischen Jes 33 und 34 gibt. Die Plene-Schreibung nimmt ab Kapitel 34 zu, wobei der Schreiber identisch geblieben ist, was sich aus dem homogen bleibenden Schriftbild ergibt.71 Daraus zieht Brownlee die Schlussfolgerung einer zweiteiligen Komposition der Kapitel 1–33 und 34–66, die aus jeweils sieben Sektionen bestehe. Das Generalthema sei die Dialektik zwischen »ruin and future blessedness«72, die schon im Kontrast von 1,24–25 und 1,26–27 präfiguriert sei. Dagegen bleibt kritisch anzumerken, dass wichtige Themen des Buches hier noch nicht angesprochen sind, wie z.B. die Fremdgötterpolemik der Kapitel 40–48. Auch sieht Brownlee selbst, dass der »Knecht« in der zweiten Hälfte kein Pendant in der ersten habe.73 Eine zweiteilige Gesamtstruktur nimmt auch Marvin Sweeney in seinem Kommentar zu Jes 1–39 an. Danach kündige die erste Hälfte das Gericht und die nachfolgende Restauration an, während die zweite betone, das Gericht sei beendet und der Wiederaufbau könne beginnen.74

      Trotz aller Divergenzen in Bezug auf die entstehungsgeschichtlichen Stufen besteht Einigkeit darüber, dass das Großjesajabuch nicht einfach die Summe disparater Einzelteile ist, sondern eine dynamische Komposition darstellt. Dabei ist mit Jes 39 ein deutlicher Einschnitt gegeben, denn danach tritt der Prophet als Akteur nicht mehr in Erscheinung. Doch greift ein einfaches Blocksystem in der Form von Kap. 1–39//40–66 (oder alternativ Kap. 1–33//34–66) zu kurz. Beide Hälften umfassen allzu unterschiedliches Material, als dass sie jeweils als eine Auslegungseinheit gelten könnten. Beide Hälften bestehen aus Teilkompositionen, die zusammengenommen ein literarisches Drama bilden.75 Dieses lässt sich in Akte und Szenen einteilen, was keinem modernen Rezeptionsempfinden geschuldet ist, sondern durch Textsignale gestützt wird. So fällt etwa die Abschlussfunktion von Jes 12 für die ersten zwölf Kapitel ins Auge.76 Dieser hymnische Text beschließt die erste Teilkomposition, in der viele zentrale Themen des Jesajabuches bereits anklingen. Die Verfasser des vorliegenden Studienbuches vertreten die Ansicht, dass die unterschiedlichen Teilkompositionen einerseits aufeinander aufbauen, andererseits aber eigene Entwicklungen durchlaufen haben. Für großflächige endredaktionelle Bearbeitungen, die den gesamten Textbestand vereinheitlicht hätten, gibt es keine Anzeichen, wohl aber für punktuelle Verknüpfungen über die Grenzen der einzelnen Teilkompositionen hinweg (so u.a. 1,31 und 66,24). Für die nachfolgende Auslegung bedeutet dies, dass die jeweiligen Akte zuerst für sich als selbstständige Einheiten analysiert werden. Darüber hinaus werden die intratextuellen Verbindungen ins Jesajabuch und die intertextuellen Bezüge zu anderen alttestamentlichen Schriften mitbedacht. Eine Aufarbeitung und Gewichtung aller schriftgelehrten Bezüge des Jesajabuches steht noch aus und könnte nur durch mehrere Monographien geleistet werden. Das Problem besteht nicht etwa in einer zu geringen Zahl an Querverbindungen, sondern an ihrer unübersichtlichen Fülle. Dies bringt Gerald T. Sheppard so auf den Punkt: »Our problem is no longer that there are so few obvious connections between parts of the book, but there are so many and they seem so independent and disparately related«.77

      Insofern im Folgenden von »Akten« und »Szenen« die Rede ist, will diese Begrifflichkeit das voranschreitende Geschehen andeuten, das dem Jesajabuch zu eigen ist. Es geht also nicht um ein Theaterdrama, das in Jerusalem im fünften oder vierten Jahrhundert zur Aufführung gekommen wäre.78 Für eine solche Praxis fehlt im Antiken Israel jeder Beleg. Es geht im Jesajabuch um ein literarisches Drama. Wer die Schrift zur Gänze liest bzw. hört, der wird Zeuge eines dramatischen Geschehens, in welchem Zion/Jerusalem vom Ort des Gerichts zum Ort des Heils für alle Gerechten in Israel und aus den Völkern wird. Dies ist die »story«, der »plot«, den der Handlungsablauf in Szene setzt und der sich nicht auf einer Bühne, sondern in der Vorstellung, der Imagination der Leser und Hörer ereignet. Was Helmut Utzschneider für das Michabuch aufgezeigt hat, gilt auch für das Jesajabuch: »In Anlehnung an die Theatersprache bezeichnen wir solche durch einen Plot bedingte Großeinheiten als Akte, wenn und insofern sie erkennbar Teile eines noch größeren Ganzen, eben des dramatischen Textes eines bestimmten Prophetenbuches oder eines Teiles desselben sind«.79 Für das Jesajabuch gehen die Verfasser dieses Lehrbuches von sieben Teilen, d.h. Teilkompositionen aus, die sich ihrerseits in »Akte« und »Szenen« einteilen lassen.80 Dem Ansatz einer »diachron reflektierten Synchronie« folgend und gemäß den obigen Ausführungen zu einigen Modellen der Entstehungsgeschichte ist es selbstredend, dass die Einteilung in Akte und Szenen keine einheitliche Genese unterstellt. Die Einschätzung von Helmut Utzschneider


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