Das Buch Jesaja. Ulrich Berges
jesajanischen Orakel nur selten vorkommt: JHWH und die assyrischen Zwingherren konnten unmöglich unter ein und demselben Titel subsummiert werden. Deshalb weicht der Königstitel der Bezeichnung »Herr«, wie aus Kap. 36–37 deutlich wird. In diesen Kapiteln wird »König« überaus häufig für den assyrischen Herrscher gebraucht, nicht aber für JHWH. Dieser nimmt die höchste und einzigartige Stellung ein: »Du thronst über den Cherubim, du bist es, der da Gott ist, du allein, für alle Königreiche der Erde« (37,16).
Die Eröffnung von Kap. 40ff. nimmt den Topos der Herrschaft JHWHs erneut auf: »Siehe, der Herr JHWH, als Starker kommt er, sein Arm herrscht für ihn […] Wie ein Hirt weidet er seine Herde« (40,10–11; vgl. 37,22–23). Die Wahl des Begriffs
»herrschen« anstelle von »König sein« folgt dem Wortgebrauch in Kap. 36–37, wo dieses Wort ebenfalls für den machtversessenen Sanherib reserviert blieb. JHWH aber übertraf ihn und seinen Gott Assur in allen Belangen. Darüber hinaus bekommt das Thema ein neues Element, weil es in 40,9 Zion als Freudenbotin ist, die JHWH als Herrscher ankündigt. Diese Vorstellung prägt die Kap. 40–54, wie besonders an 52,7 ersichtlich ist, wo JHWH siegreich zum Zion kommt. Die Grundlage all dessen besteht darin, dass er »der König Jakobs/Israels« ist (41,21; 43,15; 44,6). Die Kap. 55–66 setzen das Thema der weltweiten Herrschaft JHWHs nur indirekt fort (63,19: »Wir sind wie die geworden, über die du nie geherrscht hast«), betonen aber die Zugangsmöglichkeit zum Berg Zion auch für Menschen aus den Völkern (56,1–8). Dabei wird die Frage, wo Gott zu finden sei, so beantwortet, dass seine Hoheit in keiner Weise seine Präsenz beeinträchtigt (57,14–15: »In der Höhe und als Heiliger wohne ich bei den Zerschlagenen und Erniedrigten«; 59,20: »Der Erlöser wird nach Zion kommen«; 62,11: »Sagt der Tochter Zion: Sieh, dein Heil kommt […] seine Belohnung zieht vor ihm her«; 66,1: »Der Himmel ist mein Thron […] Was für ein Haus wollt ihr mir bauen?«).Der Titel »der Heilige Israels« umschreibt JHWHs Wesen nicht auf statische Weise in moralischer oder kultischer Hinsicht, sondern als Beziehungsgeschehen mit seinem Volk. Die Beifügung »Israel« zeigt keine Begrenzung an, sondern eine konkrete Verortung. Denn in Israel, in Zion, stellt Gott seine Souveränität vor den Augen der Völker unter Beweis (12,6; 43,3; 45,11; 49,7; 55,5; 60,14). Die Häufigkeit dieses Titels, der über alle Buchteile hinweg vorkommt (in Protojesaja 13 Mal, in Deuterojesaja 10 Mal, in Tritojesaja 3 Mal gegenüber 6 Mal im gesamten übrigen AT)86, zeugt von seiner bleibenden Bedeutung, sowohl vorexilisch als auch während und nach dem Exil. Literaturgeschichtlich betrachtet stammt der Begriff wie schon der Titel »König« aus der Sendungsvision des Propheten, insbesondere aus dem Lobgesang der Seraphen: »Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaot« (6,3). Wahrscheinlich hat der historische Prophet den Titel aus dem Jerusalemer Kult übernommen und ihn auf JHWHs wunderliches Handeln an Israel angewendet. Die Jesaja-Überlieferung sowohl vor (7. Jh.) als auch nach dem Exil (6. und 5. Jh.) hat diesen Titel zu einer Ikone für JHWHs bleibende Verbundenheit mit seinem Volk gemacht, eine Beziehung, die sich vom Gericht zum Heil entwickelte.
Vor diesem Hintergrund hat der eben zitierte Lobgesang der Seraphen in buchredaktioneller Hinsicht eine Bedeutung bekommen, die den kultischen Kontext der Szene übersteigt. Das dreimal »Heilig« drückt einerseits die höchste Form von Verwirklichung aus, spiegelt andererseits aber auch die Schwierigkeit wider, anzugeben, worin diese Eigenschaft eigentlich besteht. Das wird am beinahe tautologischen Versuch in 5,16 deutlich: »Der heilige Gott erweist sich als heilig durch Gerechtigkeit«. Die Unbegreiflichkeit gehört wesenhaft zur göttlichen Heiligkeit, aber nicht etwa in metaphysischer, sondern in historischer Hinsicht (40,25; 45,11). JHWH, der Gott, der sich Israel auserwählt hat und ihm treu bleibt, obwohl dieses Volk ihn verschmäht (1,4; 5,19.24; 30,11; 31,1), offenbart sein Engagement in Gericht und Heil bzw. besser: in einem Heil, das durch die Schule des Gerichts hindurch gegangen ist (10,20; 41,14; 43,14; 48,17; 54,5; 55,5). Diese notwendige Verbindung heißt
»Gerechtigkeit«. Sie betrifft die sozialen Verhältnisse in Israel (29,19), aber auch die Beziehung zu den Völkern (49,7; 60,9.14). Die Verwirklichung dieses Heiles zeichnet JHWH aus und wird letztendlich zu seiner Anerkennung führen (12,6; 29,23; 37,23; 41,16.20).Das Thema der »Herrlichkeit« (
) JHWHs ist auf unterschiedlichen Entstehungsstufen des Buches anzusiedeln. Den sowohl synchronen als auch diachronen Ausgangspunkt bildet die Tempelvision des Propheten und darin insbesondere der Ruf der Seraphen: »Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaot. Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit« (6,3). Die zeitliche Angabe in V. 1 »im Todesjahr des Königs Usija« (vermutlich 734) sollte ernst genommen werden. Jesajas Auftreten beginnt zu der Zeit, als Assur seine Macht über das Nordreich Israel und den Küstenstreifen ausbreitete, was Juda nicht unberührt lassen konnte (vgl. den syrisch-ephraimitischen Krieg, 734–732). »Siehe, der Herr lässt die reißenden Wassermassen des Stroms – den König von Assur und seine ganze Herrlichkeit – emporsteigen […] Er wird sich auf Juda zubewegen […] seine ausgebreiteten Ränder werden die Weite deines Landes füllen, Immanuel« (8,7–8; vgl. 7,16–17). Möglicherweise ist die explizierende Identifizierung »den König von Assur und seine ganze Herrlichkeit« redaktioneller Art. Sicher ist jedoch, dass damit eine Verbindung zur Tempelvision gelegt wird. Der historische Prophet sah die überwältigende Macht des Königs von Assur als von JHWH gewollt und dem Gott, der in Jerusalem thront, untergeordnet an. »Herrlichkeit« meint in beiden Texten Herrschaft, und zwar im Sinne von Macht und Ausstrahlung.Die Verbindung von »Herrlichkeit« (
) mit »Erde/Land« () spielt dabei auch eine Rolle (6,3.11–12; 8,8), wobei der zweite Begriff jeweils weiter oder enger gefasst wird: »Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herrlichkeit« (6,3) und »seine Ränder werden die Weite deines Landes füllen, Immanuel« (8,8). Der Begriff »Herrlichkeit« meint hier die Autorität und Befehlsgewalt über ein bestimmtes Gebiet. Von daher verweist der Terminus »Erde/Land« im Lobgesang der Seraphen auf JHWHs Machtsphäre, die sich über den Tempel von Jerusalem hinaus auf den ganzen Kosmos erstreckt, ebenso wie sich sein Thron in höchste Höhen erhebt und allein schon der Saum seines Gewandes das Heiligtum erfüllt (6,1–2).87 Demgegenüber wird im Orakel über Assurs Feldzug dessen Eroberung auf »die Weite deines Landes, Immanuel« begrenzt (8,8).Hinter diesen Texten verbirgt sich die Auseinandersetzung des Propheten mit der Elite und dem Volk in Jerusalem. Die Übermacht von »JHWH Zebaot«, die auch der König von Assur zu spüren bekommt, bedeutet wider Erwarten nicht, dass Juda von Not und Gericht ausgenommen bliebe. Im Gegenteil, »Umkehr« und »Heilung« kann es für diejenigen nicht geben, die für JHWHs Botschaft taub sind. Deshalb wird die Verwüstung des Landes auch vollständig sein (6,10–12; 8,8: »bis zum Hals«). Aber in der Fortsetzung bezeugt Jesaja, dass Assur nicht im eigenen Namen auftritt, sondern nur ein Strafwerkzeug in der Hand JHWHs ist (10,5–15). Assurs »Herrlichkeit« wird im Feuer des »Lichts Israels« und in der Flamme »seines Heiligen« zerstieben (10,16–18). Das Thema der »Herrlichkeit JHWHs« setzt sich auch nach den Kap. 1–12 fort. In dem Maße, wie die Völker, Jakob und die Angesehenen in Jerusalem ihre »Herrlichkeit« im Strafgericht verlieren (14,18; 16,14; 17,4; 21,16; 22,18.24), wird JHWHs Königsherrschaft in »Herrlichkeit« auf dem Berg Zion vor den Ältesten des Gottesvolkes antizipiert (24,23; vgl. Ex 24,9–11).
Damit bekommt das Motiv aus der Predigt des Propheten eine wichtige Rolle in der Endredaktion des Buches, denn es verbindet den zweiten und dritten Großteil: »Die Herrlichkeit JHWHs wird sich offenbaren, und gemeinsam wird alles Fleisch es sehen« (40,5; vgl. 35,2) und »Ich komme, um alle Nationen und Zungen zu versammeln, und sie werden kommen und meine Herrlichkeit sehen« (66,18–19). Die Bucheinleitung hatte diese Klammer bereits durch die Verbindung von Zion mit dem Zeltheiligtum in der Wüste vorbereitet (4,5; vgl. Num 9,15–16). So wurde »JHWHs Herrlichkeit« zu einem übergreifenden Heilsbild in jesajanischer Perspektive. Im zweiten Buchteil betont diese Herrlichkeit JHWHs Vollmacht