Das Buch Jesaja. Ulrich Berges
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Der massoretische Text, auf den sich die Kommentierung in diesem Lehrbuch bezieht, stützt sich auf den Codex Leningradensis aus dem Jahre 1008/1009 n.Chr.52 Zudem liegt mit dem Aleppo-Codex aus dem Jahre 895 n.Chr. ein ebenfalls äußerst wichtiger hebräischer Textzeuge vor.53 Beide Texte stammen aus dem Hause des Gelehrtengeschlechts Ben Ascher aus Tiberias am See von Genezareth und unterscheiden sich vor allem in Bezug auf die Vokalisierung.
Demgegenüber bieten die beiden Jesajarollen aus Qumran natürlich noch den unvokalisierten Text. Die erste Rolle (1QJesa) aus der Mitte des 2. Jh. v.Chr. hat den gesamten Jesajatext in ausgesprochen hoher Qualität bewahrt. Die zweite Rolle (1QJesb) vom Anfang des 1. Jh. v.Chr. ist dagegen fragmentarischer erhalten geblieben: Sie beginnt mit Jes 7,22, es fehlen aber u.a. Jes 9 und 11 und erst für die zweite Hälfte des Jesajabuches ist sie vollständiger. Obschon sie jünger ist als die erste Rolle, bietet sie einen archaisierenden hebräischen Text, hat schwierige Lesarten bewahrt und steht insgesamt dem massoretischen Text näher.54 Neben diesen beiden Jesajarollen aus der ersten Höhle sind besonders in der vierten (4Q) eine große Anzahl von Jesajafragmenten gefunden worden, die etwa von 100 v.Chr. bis 50 n.Chr. datieren.55 Sie bestätigen das Bild einer reichen Überlieferung, die am Beginn der Zeitenwende noch keinen einheitlichen hebräischen Text des Jesajabuches kannte. Der Konsonantenbestand des späteren mittelalterlichen massoretischen Textes ist in der Gruppe der proto-massoretischen Qumrantexte am stärksten vertreten (so auch 1QJesb). Eine viel kleinere Gruppe bietet eine zum Teil abweichende Orthographie und Morphologie, die anscheinend im Schreibermilieu von Qumran gepflegt wurden (dazu gehört 1 QJesa). Die Jesajafragmente aus 4Q nehmen hier eine Zwischenstellung ein. Es handelt sich aber bei keinem dieser Textzeugen um eine separate, eigenständige Rezension, denn dazu ist der überlieferte Textbestand – trotz aller Differenzen – viel zu einheitlich.
Von den alten Versionen des Jesajabuches ist die der Septuaginta (LXX)56, der griechischen Übersetzung, von besonderer Bedeutung, nicht zuletzt wegen ihrer Rezeption im Neuen Testament. Die hebräische Vorlage der JesLXX wird nicht wesentlich anders gelautet haben als jene des JesMT. Doch die griechische Übersetzung hatte nicht nur das Ziel, gutes Koine-Griechisch zu schreiben und unklare Passagen zu verdeutlichen (was nicht immer gelang, denn manchmal verschlimmbesserte sie den Text), sondern verfolgte auch ein aktualisierendes Interesse, was geschichtliche Umstände, Rechtsbräuche und theologische Ansichten angeht.57 Diese Freiheit der Übersetzung kann Worte, Satzteile und auch ganze Sätze betreffen, was bei manchen Passagen auf ein ganz neues Textverständnis hinausläuft, wie es danach in den Targumim der Fall sein wird. Anders als im hebräischen Text, wo dem Gottesknecht ein Grab bei den frevlerischen Reichen zugeteilt wird, verspricht JHWH in der LXX-Version, die Bösen anstelle des Gerechten dem Tod preiszugeben: »Und ich werde die Bösen anstelle seines Grabes und die Reichen anstelle seines Todes geben« (53,9aLXX). Der griechische Übersetzer präsentiert Gott nicht als gewalttätig gegenüber seinem Knecht, wie dies im hebräischen Text der Fall ist: »JHWH aber hatte es gefallen, ihn zu zermalmen, ließ erkranken« (53,10aMT). Die LXX stellt ihn vielmehr in positivem Licht dar: »Aber der Herr will ihn reinigen von dem Unglücksschlag« (53,10aLXX). In textkritischer Hinsicht kommt JesLXX besonders dann ein großes Gewicht zu, wenn die griechische Lesart mit Bezeugungen aus Qumran gegen JesMT übereinstimmt.58
Der Targum Jonathan stellt die aramäische Wiedergabe der Prophetenbücher dar (gegenüber Targum Onkelos für den Pentateuch). Targumim wurden im Synagogengottesdienst gebraucht, um den vorgetragenen hebräischen Bibeltext dem gewöhnlichen Volk verständlich zu machen. Der Targum Jonathan ist in Palästina entstanden, wurde aber während des vierten oder fünften Jahrhunderts n.Chr. in Babylon einer stark vereinheitlichenden Redaktion unterzogen. Die Datierung des Targums bleibt sehr schwierig. Man kann das Material zwar bis zu einem gewissen Grad der tannaitischen oder amoräischen Periode (vor bzw. nach dem Abschluss der Mischna ca. 200 n.Chr.) zurechnen – was die erste Periode betrifft, sogar einer Zeit vor oder nach dem Bar Kochba Aufstand (135 n.Chr.) – doch lassen sich keine literarhistorischen Schichten abheben. Der Targum stellt eher ein jahrhundertelang gepflegtes jüdisches Ethos dar, als dass es das Schriftprodukt einer historischen Epoche wäre.59 Er vergegenwärtigt die Wirkungsgeschichte Jesajas im frührabbinischen Judentum nach der Verwüstung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. Jesajanische Themen wie Gericht und Heil, Tempelkult und der Gesalbte werden auf ganz eigene Weise interpretiert, um die erlebte und erlittene Geschichte im Lichte des weiterhin gültigen Gotteswortes zu deuten. So stellt z.B. Jes 53Tg eine explizite Identifikation des Knechts mit dem »Messias« her, dem fast alle Leidensaspekte fehlen, auf dem dafür aber die Hoffnung ruht, er werde Israel aus der Unterdrückung der Völker erretten und für die Wiedererrichtung des zerstörten Heiligtums sorgen.
Die syrische Übersetzung, die Peschitta, stammt aus der frühchristlichen syrischen Kirche und wird um rund 300 n.Chr. datiert. Ihre Bedeutung liegt in der Tatsache, dass sie auf einer proto-massoretischen Textform basiert, allerlei Beziehungen zum Targum aufweist und zum Teil rabbinische Erklärungen verarbeitet. Besonders dort, wo sie zusammen mit einer oder mehreren der alten Übersetzungen vom MT abweicht, ist sie textkritisch beachtenswert.
In der lateinischen Übersetzung, der Vulgata (zwischen 391 und 405 in Bethlehem verfasst), folgt Hieronymus grundsätzlich dem MT gegen LXX, weicht aber auch in vielen Fällen davon ab. Das hat mehrere Gründe: die teilweise größere Deutlichkeit der LXX, rabbinische Erklärungen, christliche Interpretationen und alte Handschriften, zu denen er Zugang hatte. Man konsultiert diese Übersetzung des Buches Jesaja (392–393) am besten zusammen mit dem Jesaja-Kommentar des Hieronymus, den er im Jahre 410 vollendete.60
Schlussendlich hat Origenes in seiner Hexapla (ca. 245 n.Chr.) Fragmente aus drei griechischen Übersetzungen aus dem dritten Jahrhundert n.Chr. bewahrt, die für die Textanalyse des Jesajabuches von Bedeutung sind.61 Sie stammen von Theodotion (ca. 100 n.Chr. aus der Schule Hillels), Aquila (ca. 125 n.Chr. aus der Schule Aqibas) und Symmachus (ca. 200 n.Chr. aus der Schule von Jehuda ha-Nasi). Alle drei Übersetzer gehörten also dem Milieu jüdischer Gelehrter an, wobei bei Symmachus auch ein jüdisch-christlicher Einfluss (Ebioniten) spürbar ist. Sie stellten sich auf unterschiedliche Weise die Aufgabe, JesLXX besser an JesMT anzupassen. So versucht Theodotion, der hebräischen Wortfolge möglichst nahe zu kommen, Aquila arbeitet stark ideolektisch (konkordanter Wortschatz), während Symmachus darauf aus ist, die Treue gegenüber dem MT mit gutem Koine-Griechisch zu kombinieren.
5.Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle
Die Hypothesen, welche die Entstehung des Gesamtbuches zu fassen suchen, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe vertritt ein Kontinuitätsmodell: Demzufolge habe Deuterojesaja bewusst auf Protojesaja aufgebaut, den ersten Teil redigiert und als Einleitung seinen eigenen Kapiteln vorangestellt. Dies könne man u.a. daran erkennen, wie stark Jes 6 auf 40,1–8 eingewirkt habe. Aus den engen Querbezügen müsse man folgern, dass Deuterojesaja sein eigenes Werk als kongeniale Fortsetzung der jesajanischen Verkündigung angesehen habe bzw. dass er dessen Jerusalemer Worttradition seiner eigenen Predigt vom Ende des babylonischen Exils als Prolegomenon voranstellte.62 Diesen Ansatz von Hugh Williamson führt sein Schüler Jacob Stromberg noch einen Schritt weiter: Tritojesaja habe diese Art der Rezeption und Redaktion von Deuterojesaja fortgesetzt und könne somit als Leser und Redaktor des ganzen Jesajabuches gelten.63 Dies sucht er an Passagen wie 1,27–31; 6,13; 4,2–6; 11,10; 36–39; 48,22; 54,17b nachzuweisen. Da ergänzende Fortschreibungen in der Antike nicht in eine bestehende Schriftrolle eingetragen wurden, habe Tritojesaja seine eigenen Kapitel zusammen mit den Überarbeitungen von Kap. 1–55 bei einer notwendig gewordenen Neuanfertigung der Jesajarolle angefügt.64
Die zweite Gruppe von Forschern favorisiert ein Kombinationsmodell: Danach wäre das Buch durch die redaktionelle Zusammenfügung ehemals relativ unabhängiger Großteile entstanden. Zu den Hauptvertretern dieser Richtung gehören Odil Hannes Steck und Jacques Vermeylen. Letzterer geht von einer protojesajanischen Sammlung aus, die um das Jahr 480 eine vergleichbare Struktur aufwies wie das Ezechiel-