Das Buch Jesaja. Ulrich Berges

Das Buch Jesaja - Ulrich Berges


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dramatischste Zeit begann mit dem plötzlichen Tod Joschijas im Jahre 609, der sich dem ägyptischen Pharao Necho II. (609–594) bei Megiddo entgegengestellt hatte. Möglicherweise war Joschija durch hochfliegende davidische Restaurationsvorstellungen dazu verleitet worden, die direkte Auseinandersetzung mit dem Ägypter zu suchen, um so die erst kürzlich gewonnene Unabhängigkeit von Assur zu verteidigen. Gegen das übermächtige ägyptische Heer hatte Joschija in der Ebene von Megiddo keine Chance. Doch die ägyptische Präsenz sollte nur von kurzer Dauer sein, denn die Truppenkontingente des Pharao konnten sich zwar bis zur Schlacht bei Karkemisch im Jahre 605 im Norden halten, wurden dann aber vom neubabylonischen Kronprinzen Nebukadnezzar am Nordlauf des Euphrat vernichtend geschlagen. So gerieten das Haus David, Jerusalem und Juda in den Strudel der Ereignisse, die im Jahre 597 zur ersten Deportation der Königsfamilie und zehn Jahre später zur Zerstörung des Tempels, der judäischen Hauptstadt und zur Exilierung der gesamten Oberschicht führen sollten. Möglicherweise sind die Hiskija-Jesaja-Erzählungen, wie sie in 2 Kön 18–20; par. Jes 36–39 vorliegen, zu dem Zweck überarbeitet worden, die Widerstandskraft des Königshauses und der Jerusalemer Bevölkerung während der Jahre zwischen der ersten Wegführung (597) und der zweiten Deportation (586) zu festigen.40

      Insgesamt ist für die Kapitel 1–39 mit jesajanischen Grundbeständen zu rechnen, auch wenn diese nicht mehr versgenau zu rekonstruieren sind. Ein kritisches Minimum ist geradezu gefordert, denn jede Tradition braucht einen Kern, den sie weiterentwickelt. Dass Jesaja einen Schülerkreis um sich sammelte, der nach dessen Tod seine Predigt in schriftlicher Form weiterführte, sollte also nicht in Abrede gestellt werden. Daraus ergibt sich aber nicht ipso facto eine Jesaja-Schule, die für Kap. 40–66 verantwortlich gewesen wäre.41

      Dass der historische Jesaja ursprünglich nur ein Unheilsprophet gegen die Fremdvölker und damit ein reiner Heilsprophet für das eigene Volk gewesen sei42, ist sehr unwahrscheinlich. Dieser Theorie folgend wären alle Unheilsorakel exilisch-nachexilischen Ursprungs, weil man post eventum den großen Propheten zum Warner vor der Katastrophe habe machen wollen. Hätte der historische Jesaja aber nie vor dem Ungehorsam gewarnt, wäre er doch vielmehr der Falschprophetie überführt worden! Auf den ersten Blick scheint die Dissertation von Matthijs de Jong »Isaiah among the Ancient Near Eastern Prophets« denen Recht zu geben, die den historischen Jesaja nur als Heilspropheten sehen wollen. Demnach sei der Grundbestand in Jes 6–9; 10–11; 28–32 »basically pro-state« ausgerichtet.43 Eine solche Staatsräson sei auch das Merkmal der neuassyrischen Prophetie des siebten Jahrhunderts unter Asarhaddon (681–669) und Assurbanipal (669–627) gewesen. Doch verschweigt de Jong auch nicht die Differenzen zur Prophetie Mesopotamiens: Zum einen sind dort z.B. Wehesprüche unbekannt, zum andern scheint auch Jesaja eine sehr viel größere öffentliche Rolle gespielt zu haben, als das bei den neuassyrischen Propheten der Fall war. Zudem ist die jesajanische Verkündigung, die durch das Gericht hindurch zur Heilsansage kommt, ebenfalls auf die Erhaltung des Staates ausgerichtet. Wenn Jesaja vor politischen Allianzen mit Ägypten gegen Assur warnt, dann tut er das aus tiefster Sorge um Juda und Jerusalem!

      Eine weitere Kernphase der Buchentstehung liegt in exilischer Zeit, die textweltlich mit dem Trostaufruf in 40,1ff. beginnt. Schon häufig ist gesehen worden, dass Kap. 40–48 und Kap. 49–54 zwei zu unterscheidende Entitäten sind. Erstere handelt vom Geschick Israels in Babel, letztere stellt Jerusalem und Zion in den Mittelpunkt. Mit Jes 48 kommen wichtige Themen an ihr Ende, so »Babel und Kyrus« (41,1–5.25; 43,14; 44,24–45,7; 45,13; 46,11; 48,12–16a), die »früheren und späteren/neuen Dinge« (41,21–29; 42,6–9; 43,8–13; 44,6–8; 45,21; 46,8–11; 48,3–8.14–16), die »Fremdgötterpolemik« (40,19–20; 41,6–7; 42,17; 44,9–20; 45,20; 46,1–7; 47,9b–15) und die Aussagen über die »Unvergleichbarkeit JHWHs« (40,12–18.21–31; 41,21–28; 42,14–17; 45,9–13; 46,3–5; 48,1–11). Nach Jes 48 ist von all dem nichts mehr zu hören, was deutlich dafür spricht, dass sich der geschichtliche Kontext vom babylonischen Exil zum nachexilischen Jerusalem verschoben hat. Dafür spricht auch der Befehl in 48,20ff., aus Babel und Chaldäa auszuziehen und sich auf den Weg in die Heimat zu machen. Ein Spezifikum der Kapitel 49–54 (nicht 55 einschließend) betrifft den regelmäßigen Wechsel von Passagen über den Knecht (49,1–13; 50,4–11; 52,13–53,12) und Zion/Jerusalem (49,14–50,3; 51,1–52,12; 54,1–17a). Einen wichtigen Einschnitt markiert 54,17b, wo erstmalig nicht vom Knecht, sondern von den Knechten die Rede ist, was von da an bis zum Ende des Buches durchgehalten wird (56,6; 63,17; 65,8.9.13.14.15; 66,14). Diese Knechte sind die Nachkommen des Knechts (53,10) und zugleich die kostbaren Kinder Zions (54,13).

      Die opinio communis, zumindest ein Teil der Kap. 40ff. seien im babylonischen Exil verfasst worden, wurde besonders von Hans Barstad und seiner Schülerin Lena-Sophia Tiemeyer in Frage gestellt.44 Beide votieren für eine Gesamtabfassung im nachexilischen Jerusalem. Aus den akkadischen Lehnworten (u.a. in 40,20; 41,25) könnten keine Schlüsse für eine Verschriftung in Babylon gezogen werden, denn wir Heutigen besäßen mit dem AT nur einen sehr kleinen Teil der einst lebendigen Sprache. Zudem beinhalte das Biblische Hebräisch insgesamt sehr viele Hapaxlegomena. Darüber hinaus seien die meisten, wenn nicht gar alle Texte in 40ff., die von einem Weg durch die Wüste sprechen, metaphorisch zu verstehen. Diese meinten also gar keinen Zug durch die terra intermedia zwischen Babel und Jerusalem.45 Mit Recht betonen beide, dass von einer totalen Verwüstung Judas keine Rede sein könne. So habe es u.a. in Mizpa, Gibea, Bethel und Gibeon Enklaven gegeben, die eine literarische Tätigkeit in Juda durchaus zugelassen hätten. Trotz dieser wichtigen Hinweise ist doch sehr auffällig, dass zentrale Themen wie Babel, Kyrus oder die Fremdgötterpolemik auf Kap. 40–48 beschränkt bleiben und die Perspektive nach 49 eindeutig zu Zion/Jerusalem wechselt. Dass ein Kern von Kap. 40–48 im babylonischen Exil entstanden ist, von exilierten Schreibern (Leviten?) in die Heimat mitgebracht und in Jerusalem fortgeschrieben wurde, bleibt die wahrscheinlichste Annahme, die auch in diesem Lehrbuch vertreten wird.

      Die letzte Kernphase liegt in der Zeit der nachexilischen Restauration in der zweiten Hälfte des 5. Jh., in die der Wiederaufbau und die Wiedereinweihung des Tempels (520–515) sowie die national-religiösen Bemühungen unter Esra und Nehemia fallen. Hierzu passt die redaktionsgeschichtliche Mehrheitsmeinung, dass Jes 60–62 den ältesten Kern des letzten Großteils des Jesajabuches bilden. Die Schlagworte »Opfer« (60,7), »Mauern und Tore« (60,10f.18; 62,6), »mein heiliger Ort« ([=Tempel] 60,13; 62,9), »Priester« (61,6) weisen auf eine Zeit hin, in der der Jerusalemer Opferkult wieder in Gang gekommen ist und man erwartet, dass sich die Völkerwelt am Aufbauprojekt mit reichen Gaben beteiligen werde. Zugleich ist die Zukunftsvision des göttlichen Lichts über Zion/Jerusalem eng verbunden mit der Hoffnung auf eine gerechte Ordnung (60,17b.21; 61,1–3.8.10f.; 62,1f.). Um dieses Zentrum legen sich drei sukzessiv entstandene Rahmen, die mit der Ausweitung der Tempel-Bürgergemeinde auf Fremde und Völker (56,1–8; 66,18–24), mit der Trennung zwischen Gerechten und Frevlern (56,9–58,14; 65,1–66,17) und kollektiven Klagen über das bisherige Ausbleiben des göttlichen Heils (59; 63,1–64,11) zu tun haben. Die Inklusion von Gerechten aus den Völkern und die Exklusion von Frevlern aus dem eigenen Volk sind zwei Seiten einer Medaille! Nach Paul Hanson geht diese Spaltung im nachexilischen Israel zwischen Frommen und Frevlern auf prophetisch-eschatologische Gruppen zurück, die einen erbitterten Kampf gegen die priesterliche Tempelaristokratie führten und im Zuge dessen immer stärker an den Rand gedrängt wurden.46 Diese radikale Kontrastierung ist zu schematisch, denn die Trägerkreise im Jesajabuch lehnen Tempel, Opfer und Priesterschaft keineswegs grundsätzlich ab. So stellt Bruce Schramm die entscheidende Frage, wie denn eine tritojesajanische Redaktion so erfolgreich am Gesamtbuch Jesaja mitgearbeitet haben könne, wenn es sich dabei nur um eine marginalisierte Gruppe gehandelt hätte!47

      Mit dem Ende der persischen Periode wird auch das Jesajabuch in seinen tragenden Teilkompositionen zum Abschluss gekommen sein, denn vom Aufkommen Alexanders des Großen sind keine eindeutigen Spuren zu entdecken.48 Diese Schlussphase der Genese des Jesajabuches liegt bereits nahe am Ende des Traditionsprozesses der Prophetenbücher überhaupt.49 Da im Lob der Väter (Sir 48f.) neben Jesaja (48,23–25), Jeremia (49,7) und Ezechiel (49,8) auch das Dodekapropheton (49,1050) genannt wird, muss der Kanon der Schriftpropheten um die Mitte bzw. am Ende des 3. Jh. festgestanden haben.


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