Vertrauen. Niklas Luhmann
Gewißheit anstelle der altvertrauten Evidenz zum Wahrheitskriterium zu machen.
Die damit offengelassenen Fragen können hier nicht angemessen ausgearbeitet, geschweige denn beantwortet werden. Für ein Abheben des Vertrauensproblems von der allgemeinen Vertrautheit der Lebenswelt ist es jedoch wesentlich, diesen Fragenkreis der intersubjektiven Konstitution im Blick zu behalten. Die allgemeine,[26] anonym konstituierte Vertrautheit der Lebenswelt, Natur und menschliche Beziehungen eingeschlossen, ist und bleibt die selbstverständliche Daseinsgrundlage, die jeweilige Basis für alle spezifischen, thematisch zugreifenden Intentionen. In dieser gemäßigten Zone ohne spezifische Vertrauens- oder Mißtrauensprobleme hält der Mensch sich alltäglich auf. Sie ist Voraussetzung allen Vertrauens und allen Mißtrauens. Er kann aber die intersubjektive Konstitution dieser Basis nicht sehen, nicht zum Problem machen, soweit er nicht in der Lage ist, jene Vertrautheit mit der gegenständlichen Welt in Vertrauen in ihren intersubjektiven Konstitutionsprozeß zu verwandeln6. Er bleibt in der Höhle der Schatten, die Platon beschrieb, und muß sich mit schon reduzierten Formen begnügen, es sei denn, daß er sich in die Lage versetzt, der vollen Komplexität der Welt mit wirksameren Formen der Reduktion von Komplexität zu begegnen. Dabei wird es nicht darauf ankommen, die seine Sehkraft überstrahlende Evidenz von Ideen auszuhalten7, sondern darauf, in Prozessen intersubjektiver Kommunikation Systeme zu stabilisieren, die mehr Komplexität der Welt erfassen und reduzieren können, und sein Vertrauen auf das Funktionieren dieser Systeme zu setzen. Nur so ist der transzendentale Prozeß der Konstitution von Welt und Sinn auf einer Stufe höherer Komplexität zu realisieren8.
Für unser besonderes Problem des Vertrauens ergibt sich aus dieser allgemeinen Diagnose die Vermutung eines Stilwandels auf dem Wege zu größerer, bewußter verarbeiteter Komplexität.
[27]In einer Vorschau auf die folgenden Kapitel läßt diese Vermutung sich wie folgt skizzieren: Auf dem Boden der alltäglichen Weltvertrautheit ist Vertrauen zunächst personales (und damit begrenztes) Vertrauen. Es dient der Überbrückung eines Unsicherheitsmomentes im Verhalten anderer Menschen, das wie die Unvorhersehbarkeit der Änderungen eines Gegenstandes erlebt wird. In dem Maße, als der Bedarf für Komplexität wächst und der andere Mensch als alter ego, als Mitverursacher dieser Komplexität und ihrer Reduktion, in den Blick kommt, muß das Vertrauen erweitert werden und jene ursprünglich-fraglose Weltvertrautheit zurückdrängen, ohne sie doch je ganz ersetzen zu können. Es wandelt sich dabei in ein Systemvertrauen neuer Art, das einen bewußt riskierten Verzicht auf mögliche weitere Information, sowie bewährte Indifferenzen und laufende Erfolgskontrolle impliziert. Systemvertrauen läßt sich nicht nur auf soziale Systeme, sondern auch auf andere Menschen als personale Systeme anwenden. Diesem Wandel entspricht, wenn man auf die inneren Voraussetzungen des Vertrauenserweises achtet, ein Übergehen von primär emotionalen zu primär darstellungsgebundenen Vertrauensgrundlagen.
1 Zu dieser auf den von Husserl gelegten Grundlagen erarbeiteten These vgl. einige Literaturhinweise Kap. 1, Anm. 13; ferner A. Gurwitsch 1962; P. L. Berger und St. Pullberg 1965, S. 102 f.; P. L. Berger und T. Luckmann 1966. Auch Sartres Begrif f der „totalisation“ impliziert diese Intersubjektivität – vgl. J.-P. Sartre 1960.
2 Um die Herausarbeitung dieses Gedankens hat sich namentlich Alfred Schütz verdient gemacht. Vgl. A. Schütz 1932, S. 220 ff. Vgl. auch E. Husserl 1954, S.114 ff.
3 Die Abwertung der Sozialdimension als bloßes Mitsein des Man bei M. Heidegger 1949, S. 114 ff., geht von diesem Grundtatbestand aus, gibt ihm aber zu Unrecht den Status der „Uneigentlichkeit“ im Vergleich zu einem „eigentlichen“ Sein. Demgegenüber zelgen P. L. Berger und H. Kellner 1965, daß gerade auch der Intimkontakt Welt artikulierende Bedeutung hat.
4 Vgl. dazu H. Garfinkel 1964; P. L. Berger und T. Luckmann 1966, S.140 ff.
5 Darin, daß ein Außerhalb stets zugänglich bleibt, sieht H. Plessner 1964, S. 45 f.; mit Recht einen wesentlichen Unterschied der vertrauten Nahwelt des Menschen zur Umwelt des Tieres. Vgl. auch entsprechende Bemerkungen zum Sinnbegriff und zum Horizontbegriff bei H. Hülsmann 1967, S. 4.
6 In diesem transzendentalen Sinne spricht auch M. Adler 1936, S. 91, von Vertrauen – nämlich von Vertrauen in die Fähigkeit der Mitmenschen, die Wirklichkeit richtig zu erfahren.
7 Selbst Husserl ließ sich bekanntlich von diesem platonischen Gedanken noch beeindrucken und dadurch um den vollen Ertrag seines Lebenswerkes bringen.
8 Hierzu auch N. Luhmann 1971, S. 66 ff. H. Hülsmann 1967 setzt mit der These, Hermeneutik könne die Anonymität des Sinn mitkonstituierenden alter ego aufheben, der Soziologie ähnliche Ziele, läßt aber nicht erkennen, wie die Leistung der Anonymität, allem bestimmten Sinnerleben Hintergrundsicherung zu geben, anders erbracht werden könnte. Solange wir aber Anonymität nicht ersetzen, transzendentale Vertrautheit nicht in transzendentales Vertrauen überführen können, können wir auch nicht auf sie verzichten.
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