Vertrauen. Niklas Luhmann
Bedarfsdruck auf expressive Variable. In diesem Druck erblickt die herrschende Auffassung in Theorie und Praxis ein Problem und damit eine Aufforderung zur Planung, zur Instrumentalisierung und zur organisatorischen Sicherstellung einer zweckmäßigen Expression13. Das impliziert den gewaltsamen Versuch, aus der unausweichlichen Gleichzeitigkeit des gemeinsamen menschlichen Lebens auszubrechen, die Gegenwärtigkeit des anderen Menschen in die Zukunft zu projizieren und damit Zeit zu gewinnen, sie zu planen und durch selektive Manipulation von Darstellungen zu beeinflussen. Aber alle Menschen leben und altern zusammen in stets gegenwärtig-gemeinsamem Dauern14. Wer die Gegenwart anderer manipulieren will, [17] müßte sich ihr entziehen und in eine andere Zeit entfliehen können. Da das nicht möglich ist, läuft alle Manipulation Gefahr, selbst in ihrer eigenen Gegenwart sichtbar, also zur Expression zu werden und damit sich und ihr Ziel zu verraten. Dem kann zwar durch soziale Differenzierung, Rollentrennungen, Kommunikationsschranken und Informationskontrolle, kurz durch soziale Organisation weitgehend vorgebeugt werden. Aber damit wird nur bewirkt, daß der Verdacht auf Manipulation universell wird und sich dadurch von Bestätigungen oder Widerlegungen im Einzelfall unabhängig festsetzt. Vertrauen läßt sich nur dann erhalten, wenn es eine Form findet, in der es mit diesem Verdacht leben kann und gegen ihn immun wird15.
Dieses Dilemma von Instrumentalität und Expressivität bzw. von zukunftsbezogener Ereigniskontrolle und gegenwärtiger Bestandssicherheit, das schärfer wird in dem Maße, als die Komplexität der Verhältnisse zunimmt, gewinnt deutlichere Konturen, wenn wir es mit dem Thema des vorigen Kapitels, dem Problem der Komplexität, in Verbindung bringen. Dazu muß zunächst unsere Zeitanalyse um einige Gedanken weitergeführt werden.
Die Konstitution der objektiven Zeit, die Interpretation des subjektiv erlebbaren Gegensatzes von Dauer und Wechsel durch den objektiven Gegensatz identischer Bestände und identischer Ereignisse, dient der Eröffnung eines Spielraums der Variation. In der Ereignisperspektive werden mit der Gegenwart die Bestände, in der Bestandsperspektive mit der Zukunft und der Vergangenheit die Ereignisse bewegt, das heißt für andere Möglichkeiten aufgeschlossen. Diese Variabilität erfaßt alles, was ist, ohne Ausnahme16. Die Zweiheit der sich wechselseitig ausschließenden Perspektiven garantiert diese Vollständigkeit und erspart dem Menschen die für ihn unvollziehbare Vorstellung, daß alles mit [18] allem auf einmal variieren könnte. Die Zeit wird, mit anderen Worten, als grenzenlose und doch reduzierbare Komplexität konstituiert. Die Zeitdimension ist mithin, wie die Sozialdimension auch, eine Auslegung der Welt unter dem Gesichtspunkt äußerster Komplexität. Sie zeichnet vor, daß alles anders werden kann. Der Boden dieses Weltentwurfs aber, der noch die Zeit selbst, noch die Welt selbst, ja noch die äußerste unbestimmte Komplexität selbst zu einem Bestand werden läßt, ist die faktisch dauernde Gegenwärtigkeit des aktuellen Erlebens. Alle Komplexität anderer Möglichkeiten wird durch diese Gegenwart auf erlebbare Aktualität reduziert, die Welt selbst zum Beispiel auf den miterlebbaren „Horizont“ des Erlebens. Die Bestände, die an der Aktualität der Gegenwart teilnehmen können, dienen der Erfassung und Reduktion jener äußersten Komplexität, der Bestimmung des Bestimmbaren, oder – in der traditionellen, die Zeit ausklammernden Sprache der ontologischen Metaphysik – der Formung der Materie. Sie leisten dies, indem sie die Welt auslegen, strukturieren und so vereinfachen, daß Ereignisse Informationswert gewinnen und mit menschlichem Handeln zu einem Prozeß selektiver Auswahl verschmolzen werden können. In dieser ihrer Funktion als Reduktionhilfen schaffen die Bestände des Erlebens gegenwärtige Sicherheit.
Man kann die Zeit deshalb auch als Reduktion der Komplexität begreifen, – sei es, daß man die Gegenwart als in die Zukunft voranschreitenden Standpunkt des subjektiv-selektiven Erlebens ansieht, sei es, daß man sie als feststehenden, in den „Fluß der Zeit“ eingebauten Filter auffaßt, der Mögliches in Wirkliches transformiert. Beide Bewegungsbilder sind, das wissen wir, inadäquate Metapher für jenen Vorgang der Vermittlung zwischen Komplexität der Welt und Aktualität des Erlebens, den wir Reduktion nennen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen tritt die Funktion des Vertrauens deutlicher ins Relief. Sie stärkt die Gegenwart in ihrem Potential, Komplexität zu erfassen und zu reduzieren; sie stärkt die Bestände gegenüber den Ereignissen und ermöglicht es daher, mit größerer Komplexität in bezug auf Ereignisse zu leben und zu handeln. Vertrauen stärkt, um auf eine bekannte psychologische [19]Theorie anzuspielen, die „Toleranz für Mehrdeutigkeit“17. Diese Leistung ist mithin nicht zu verwechseln mit instrumenteller Ereignisbeherrschung. Wo solche Beherrschung sichergestellt (also „vergegenwärtigt“) werden kann, ist Vertrauen unnötig. Vertrauen braucht man zur Reduktion einer Zukunft von mehr oder weniger unbestimmt bleibender Komplexität.
Ereignisbeherrschung und Vertrauen zu unterscheiden, ist nicht nur ein Gebot begrifflicher Klarheit, sondern auch erforderlich, um bestimmte Einsichten über den Zusammenhang beider zu gewinnen. Unbestimmte Komplexität möglicher Ereignisse ist nämlich nicht nur eine Folge mangelnder Zukunftsplanung, sondern in anderem Sinne auch eine Folge des Ausmaßes instrumenteller Planung18. Mit der weit vorgreifenden, über lange und kompliziert verflochtene Ketten von Ursachen und Wirkungen projektierten, viele Parameter und viele Handlungen verschiedener Menschen einbeziehenden Planung nehmen die Möglichkeiten der Zukunft nämlich nicht ab, sondern zu. Für den einzelnen entsteht dann gerade aus solcher geplanten Komplexität eine neue Art von Unsicherheit. Dazu kommt, daß es in dieser Planung ein hohes Maß von technisch sinnvollen Unbestimmtheiten gibt. Es wird sinnvoll, Entscheidungen zu vertagen, bis der Lauf der Zeit mehr Ereignisse verwirklicht, mehr Komplexität reduziert hat. Geld, Macht und Wahrheit, darauf kommen wir eingehend zurück, sind soziale Mechanismen, die es erlauben, Entscheidungen zu vertagen und doch schon sicherzustellen, also mit einer Zukunft von hoher, unbestimmter Ereigniskomplexität zu leben. Die gegenwärtige Stabilisierung dieser und anderer Mechanismen setzt Vertrauen voraus. Ereignisbeherrschung und Vertrauen sind mithin nicht lediglich funktional äquivalente, einander substituierbare Mechanismen der Reduktion von Komplexität; steigt die erfaßbare Komplexität möglicher Ereignisse, dann müssen sie beide komplementär und nebeneinander stärker beansprucht werden. Demnach ist nicht zu erwarten, daß das Fortschreiten der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation die Ereignisse unter Kontrolle[20] bringen und Vertrauen als sozialen Mechanismus durch Sachbeherrschung ersetzen und so erübrigen werde. Eher wird man damit rechnen müssen, daß Vertrauen mehr und mehr in Anspruch genommen werden muß, damit technisch erzeugte Komplexität der Zukunft ertragen werden kann. Mit Recht hat Talcott Parsons die Bedeutung kleingruppenmäßig-expressiver Solidarität als Basis politischen Vertrauens gerade mit der notwendigen Unbestimmtheit der Komplexität politischer Prozesse in Zusammenhang gebracht19. Zugleich lehrt dieses Beispiel, daß Teilsysteme der Gesellschaft wie die Politik und vielleicht auch die Wirtschaft, die nicht mehr genug für die Gegenwart tun können, eben dadurch auf andere Handlungsbereiche angewiesen bleiben, die sich diesen vertrauensbildenden Gegenwartsbezug bewahrt haben.
1 Die deutlichste Formulierung jetzt T. Parsons 1970, S. 30 ff. Ähnlich bereits J. Piaget 1955, insb. S. 275 ff., für psychische Systeme.
2 Das Forschen nach einem ursprünglicheren als dem alltäglichen bzw. dem wissenschaftlichen Zeitbegriff ist namentlich durch Bergson und Husserl eingeleitet worden. Siehe H. Bergson 1889 und E. Husserl 1928.
3 Bergson und Husserl nennen diesen Befund selbst schon „Zeit“. Husserl allerdings räumt später ein: „Im Grunde ist die Urzeit noch