Vertrauen. Niklas Luhmann
etwas kann als Bestand identifiziert werden, der unabhängig vom Wechsel der Zeitpunkte dauert. Solche Dauer hat lediglich die je kontinuierlich aktuelle Gegenwart, während alles Zukünftige kommt, alles Vergangene wegfließt. Bestände können also nur als gegenwärtig identifiziert werden. In der Zukunft oder der Vergangenheit lassen sie sich allenfalls als Ereignisserien fassen und in der abgewandelten Form von kontinuierlich gegenwärtigen Erwartungen oder Erinnerungen zu Beständen machen4. So [12] hat denn auch die Antike mit gutem Recht sich ewigen Bestand nur als Gegenwart vorstellen können, während es der heutigen Auffassung, die sich an der Identität der Zeitpunkte orientiert und sich deshalb die Gegenwart als bewegt vorstellen muß, näher läge, Ewigkeit als Gesamtereignis der Welt, etwa als creatio continua, zu begreifen und die Zeit demgemäß als eine Historie von Ereignissen zu sehen.
Beide Perspektiven schließen sich wechselseitig aus, da jede als ihr Identitätsprinzip das konstant hält, was die andere variieren muß, um ihr eigenes Identitätsprinzip zu gewinnen. Sie können deshalb nicht gleichzeitig gebraucht werden. Gerade durch diese Ausschließung aber fundieren beide Identifikationsformen sich auch als komplementäre Negationen. Variation ist als solche nämlich unbegreiflich, wenn man nicht Identitäten voraussetzen kann, in bezug auf die sich etwas ändert. Beide Identifikationsformen negieren (und machen dadurch begreiflich), was sich an der je anderen ändert. Sie beleuchten dadurch das, was die Zeit für die jeweils andere Art von Identität bedeutet: Die Identität der Ereignisse konstitutiert das, was die zeitliche Problematik der Bestände ausmachte, nämlich das Fortschreiten der Gegenwart als eines je aktuellen Momentes, der seine Bestände nicht ohne weiteres mitnehmen kann, sondern sich immer um Erhaltung und Neuerwerb bemühen muß; die Identität der Bestände konstituiert das, was die Zeitproblematik der Ereignisse ausmacht, nämlich ihr unbeständiges Wegfließen aus der Zukunft in die Vergangenheit und ihre nur zufällige, glückhafte Allianz mit den Beständen.
Der Widerspruch dieser Identifikationsweisen erlaubt keinen Rückschluß auf die vermeintliche „Unrealität“ der Zeit5. Ein solcher Schluß wäre besonders dann unergiebig und irreführend, wenn man einen Realitätsbegriff unterstellt, der von der Zeitlichkeit [13] bereits abstrahiert. Vertrauen bezieht sich keineswegs auf ein unreal gestelltes Problem. Vielmehr konstituiert sich die Zeitlichkeit als jene doppelte Möglichkeit der Negation, die als Möglichkeit ebenso wie als Negation real ist, nämlich wirklich und mit nachweisbarer Leistungsfähigkeit orientiert6. Erst diese doppelte Negation des am je anderen Variierten ergibt ein vollständiges Schema der Zeit, die sich selbst der Erfassung entzieht. Weder der antike, gegenwartsbezogene noch der moderne, zeitpunktbezogene Zeitbegriff reichen aus. Mit diesen an je eine der beiden Perspektiven sich bindenden Zeitbegriffen gewinnt man lediglich ein Schema der Problematisierung der Bestände bzw. Ereignisse, das durch ein gegenperspektivisches Zeitdenken korrigiert werden müßte.
Durch diese kursorischen Überlegungen wird jedenfalls so viel klar, daß Vertrauen nicht einfach als „Überwindung der Zeit“ begriffen werden kann. Auch schließt weder die eine noch die andere Zeitperspektive als dominierende Form der Erlebnisverarbeitung Vertrauensbildung aus. Es wäre höchst fragwürdig, wollte man behaupten, daß das antike Zeiterleben, weil es Bestände ganz als dauernd-aktuelle Gegenwart und nicht bloß als Ereignisreihen erfassen konnte, faktisch mehr Ansatzpunkte für: Vertrauensbildung bot als das unsrige. Eine wesentliche Einsicht können wir unserer Analyse jedoch entnehmen, daß nämlich Bestandssicherheit, und das heißt Sicherheit schlechthin, nur in der Gegenwart möglich ist und daher auch nur in der Gegenwart sichergestellt werden kann7. Dasselbe gilt für Vertrauen als einer Form der Sicherheit. Vertrauen kann nur in der Gegenwart gewonnen und erhalten werden. Nicht die ungewisse Zukunft, aber auch nicht die Vergangenheit, kann Vertrauen erwecken, da auch das Gewesene nicht vor der Möglichkeit künftiger Entdeckung einer anderen Vergangenheit sicher ist. Diese Gegenwartsbezogenheit des Vertrauens kann nicht begriffen und in ihren Konsequenzen ausgearbeitet werden, wenn man die Gegenwart nach Art eines am Zeitpunkt haftenden Ereignisses als bloßen Moment versteht, als [14] den Augenblick, in dem ein Ereignis sich ereignet. Grundlage allen Vertrauens ist vielmehr die Gegenwart als dauerndes Kontinuum im Wechsel der Ereignisse, als Gesamtheit der Bestände, an denen Ereignisse sich ereignen können.
Das Problem des Vertrauens besteht nämlich darin, daß die Zukunft sehr viel mehr Möglichkeiten enthält, als in der Gegenwart aktualisiert und damit in die Vergangenheit überführt werden können. Die Ungewißheit darüber, was geschehen wird, ist nur ein Folgeproblem der sehr viel elementareren Tatsache, daß nicht alle Zukunft Gegenwart und damit Vergangenheit werden kann. Die Zukunft überfordert das Vergegenwärtigungspotential des Menschen. Und doch muß der Mensch in der Gegenwart mit einer solchen, stets überkomplexen Zukunft leben. Er muß also seine Zukunft laufend auf das Maß seiner Gegenwart zurückschneiden, Komplexität reduzieren.
Wir können dieses Problem schärfer erfassen, wenn wir zwischen gegenwärtiger Zukunft und künftigen Gegenwarten unterscheiden8. Jede Gegenwart hat ihre eigene Zukunft als offenen Horizont ihrer künftigen Möglichkeiten. Sie vergegenwärtigt sich eine Zukunft, von der nur eine Auswahl künftig Gegenwart werden kann. Im Fortschreiten in die Zukunft produziert sie durch Selektion aus diesen Möglichkeiten neue Gegenwarten und zugleich neue Zukunftshorizonte für diese Gegenwarten. Sie produziert Bestände in dem Maße, als ihre gegenwärtigen und ihre künftigen Gegenwarten identisch bleiben; sie produziert Ereignisse in dem Maße, als sie Diskontinuitäten erzeugt. Soweit ein Erleben sich jene Differenz seiner gegenwärtigen Zukunft und seiner künftigen Gegenwarten bewußt macht, entsteht mit der Chance bewußter Selektion zugleich Unsicherheit und ein Bedarf für die Sicherung von Zusammenhängen zwischen gegenwärtigen und künftigen Gegenwarten, die durch die gegenwärtige Zukunft als gefährdend erscheinen.
[15]Diese Anforderungen sind unvertagbar. Entsprechende Leistungen werden dem Menschen in der dauernden Gegenwart permanent abverlangt. Vertrauen ist eine der Möglichkeiten, sie zu erbringen. Demnach befaßt die Vertrauensbildung und -vergewisserung sich mit dem Zukunftshorizont der jeweils gegenwärtigen Gegenwart. Sie versucht, Zukunft zu vergegenwärtigen und nicht etwa, künftige Gegenwarten zu verwirklichen. Alle Planungen und Vorausberechnungen künftiger Gegenwarten, alle indirekten, langfristig vermittelten, umweghaft konzipierten Orientierungen bleiben unter dem Gesichtspunkt des Vertrauens problematisch und bedürfen eines Rückbezugs in die Gegenwart, in der sie verankert werden müssen. Die zunehmende Komplexität solcher Planungen macht in wachsendem Umfange eine Vertagung von Befriedigungen und Entscheidungen erforderlich, deren zeitpunktmäßige Vorplanung und Terminierung kein Gewißheitsäquivalent zu bieten vermag. Daher steigt mit zunehmender Komplexität auch der Bedarf für Vergewisserungen der Gegenwart, zum Beispiel für Vertrauen. Dieser Sachverhalt läßt sich mit Hilfe der Unterscheidung von instrumentellen und expressiven Variablen verdeutlichen, die, aus der Kleingruppenforschung stammend, in der neueren soziologischen Systemtheorie wachsende Bedeutung gewinnt9.
In dieser Unterscheidung, deren Grundlagen noch wenig geklärt sind10, ist ein Zeitproblem11 vorausgesetzt. Während instrumentelle [16]Orientierungen sich auf Zwecke, also auf die in der Zukunft erwarteten Wirkungen beziehen, dient der expressive Gehalt von Erlebnissen der Stabilisierung der Gegenwart in der Sicherheit ihrer Bestände, und zwar nicht einer ereignisartigen, momenthaft aufblitzenden Gegenwart, sondern einer Gegenwart, die sich mit Hilfe je eigener Zeithorizonte der Zukunft und Vergangenheit als dauernde Basis wechselnder Ereignisse konstituiert12.
Das Vordringen instrumentell spezifizierter Orientierungen auf Kosten der Gegenwart ist eine Bedingung rationaler Leistungssteigerung.