Vertrauen. Niklas Luhmann
psychische Systeme in sozialen Systemen funktional äquivalent operieren können, so daß soziale Systeme sich von Prozessen psychischer Individualisierung in gewissem Umfange unabhängig machen können.
11 Siehe als neueste Darstellung und als Auseinandersetzung mit dem individualpsychologischen Reduktionismus der Sozialpsychologie T. Parsons 1970.
12 Der Begriff der Komplexität läßt sich mithin dem Materiebegriff der alteuropäischen Philosophie vergleichen. Aber „Materie“ war auf „Form“ hin konzipiert, während der Begriff der Komplexität reduzierende selektive Systeme voraussetzt.
13 Vgl. besonders: E. Husserl 1952, S. 190 ff.; ders. 1954, S. 185 ff., 415 ff. und passim. Bezeichnend für die Grenze des Husserlschen Denkens ist, daß er einen Vorrang der Ich-Subjektivität im Sinne des transzendentalen Subjektivismus behauptet und erst auf diesem Boden die Konstituierung des Mitmenschen, der intersubjektiven Erlebensgemeinschaft und der Welt als ihres Horizontes zu begreifen sucht. Dieser Ausgangspunkt ist für das Denken in der Welt aber nur durch methodisch-bewußte Abstraktionen erreichbar, die Husserl Reduktionen nennt. Insofern verstrickt Husserl sich in dasselbe Dilemma wie ein absolut gesetzter Funktionalismus, künstlich isolierte Perspektiven als Grund behaupten zu müssen. – Alle dadurch stimulierten Versuche, sich diesem Dilemma zu entziehen, führen aus ihm heraus und wieder in die schon konstituierte Welt zurück und verfehlen schon damit den Rang des Husserlschen Problems. Siehe insb. A. Schütz 1932, insb. S. 186 ff., und eine Reihe späterer Aufsätze, zusammengestellt in: A. Schütz, 3 Bde. 1962–1966; ferner als Kritik der Versuche Husserls: A. Schütz 1957. Vgl. außerdem: J.-P. Sartre 1950, S. 273 ff. M. Merleau-Ponty 1945, S. 398 ff.; W. E. Hocking 1953/54, S. 451 ff.; L. Landgrebe 1963, S. 89 ff.; M. Theunissen 1965
14 Siehe als eine besonders klare Formulierung: T. Parsons, E. A. Shils 1951, S. 16; ferner T. Parsons 1951, S. 10 ff., und dazu A. W. Gouldner 1959, sowie ders. 1960.
15 Dies gilt einerseits für den Gedanken Simons, von der unzureichenden rationalen Fähigkeit des Menschen her – und das ist eine spiegelbildliche Fassung des Komplexitätsproblems – die Funktion der Organisation von Entscheidungsprozessen zu begreifen; siehe insb. H. A. Simon 1955 und ders. 1957 b; ferner auch für die durch die Spieltheorie angeregten Bemühungen um eine Organisationstheorie, welche das Problem der „rationalen Unbestimmtheit“ aller Situationen, an denen mehrere Menschen beteiligt sind, mit Strategie-Konzeptionen angeht – siehe z. B. J. von Neumann und O. Morgenstern 1961, insb. S. 9 ff.; J. Marschak 1954; ders. 1955 und dazu G. Gäfgen 1963, insb. S. 176 ff., und ders. 1961. Auch H. Garfinkel (1963) orientiert sich am Modellfall des Spiels, um die allgemeine These zu stützen, daß hinter allem „normalen“ Erleben das Vertrauen steht, daß andere Menschen einer gemeinsamen Ordnung konstituierender Erwartungen folgen.
16 Auch die Staatsvertragslehren der frühen Neuzeit benutzen die historische oder utopische Darstellung nur als Einkleidung einer funktionalen Aussage.
17 Vgl. dazu: P. Plessner 1964, S. 41 ff., und als Kontrast J. Cazeneuve 1958.
2. Bestände und Ereignisse
Schon bei oberflächlichem Hinblick ist am Thema Vertrauen ein problematisches Verhältnis zur Zeit erkennbar. Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg. Er handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre. Man könnte meinen, er überwinde die Zeit, zumindest Zeitdifferenzen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Ethik aus einem heimlichen Vorurteil gegen die Zeit heraus Vertrauen empfahl als eine Haltung, die sich vom Zeitfluß unabhängig zu machen und so der Ewigkeit nahezukommen sucht. Aber die Vorstellung von Zeit, die solch einem Urteil zugrunde liegen könnte, ist, wie das Urteil selbst, unzulänglich geblieben. Die Zeit kann nicht als Fluß, als eine Bewegung, und auch nicht als Maß der Bewegung gedacht werden. Im Bewegungsbegriff ist ja in unerkannter Weise der Zeitbegriff schon vorausgesetzt.
Noch weniger hilft die in der Soziologie übliche Unterscheidung von Struktur und Prozeß. Von ihren offenkundigen Mängeln abgesehen – daß sie nämlich weder die Änderbarkeit der Strukturen noch die Strukturiertheit der Prozesse erfaßt –, benutzt sie objektivierende Begriffe von etwas Feststehendem und etwas Fließendem, in deren Entgegensetzung das Wesen der Zeit verborgen bleibt. Wir würden zögern, Vertrauen, sei es als Struktur, sei es als Prozeß zu identifizieren, und das zeigt schon Grenzen dieser Unterscheidung, zeigt die Unzulänglichkeit der herrschenden soziologischen Theorie, wenn es um das Thema Vertrauen geht, und zeigt schließlich eine Nähe dieses Themas zu einem noch nicht erfaßten Begriff von Zeit an.
[10]Eine Theorie des Vertrauens setzt eine Theorie der Zeit voraus. Diese Voraussetzung führt in ein so schwieriges, dunkles Gelände, daß wir sie hier nicht einlösen können. Immerhin bieten neuere systemtheoretische Überlegungen einige Anhaltspunkte. Sie betreffen den Zusammenhang von System/Umwelt-Differenzierungen und Zeitlichkeit.
Sobald Systeme durch Ausdifferenzierung Grenzen gegenüber ihrer Umwelt bilden, entsteht ein Zeitproblem, das heißt zunächst eine Verschiebung der Prozesse, die die Ausdifferenzierung erhalten, in ein Nacheinander. Denn nicht alle Beziehungen zwischen System und Umwelt können momenthafte Punkt-für-Punkt-Korrelationen sein; vielmehr erfordert die Erhaltung der Differenz, zumindest bei komplexeren Systemen, Umwege, die Zeit brauchen. Auf Umweltereignisse wird teils überhaupt nicht, teils später, teils antizipatorisch reagiert und nur in sehr geringem Maße sofort. Hierauf gründet Talcott Parsons sein berühmtes Vier-Felder-Schema der Systemprobleme, konstruiert durch Gegenüberstellung der Differenz von System und Umwelt und der Differenz gegenwärtiger und künftiger Erfüllung1. Parsons wertet diesen Gedanken nur für eine Theorie der Systemdifferenzierung aus. Er hat jedoch sehr viel weittragendere Bedeutung für die Konstitution von Zeitlichkeit selbst und für daraus folgende Probleme systeminterner struktureller Generalisierung.
Wenn diese Ableitung zutrifft, geht es in der Zeitlichkeit um ein durch Ausdifferenzierung ausgelöstes Zusammenbestehen von Veränderung und Nichtveränderung. Dieser Sachverhalt findet sich in sinnhaften Systemen menschlichen Erlebens und Handelns wieder und bestimmt auch hier die Erfordernisse struktureller Generalisierung.
Allem menschlichen Zeiterleben liegt als in der Reflexion erreichbarer letzter Befund ein Erleben von Dauer trotz Wechsels von Impressionen zugrunde2. Dieser Befund bietet, was immer er sein [11] mag3, der Interpretation zwei entgegengesetzte Ansatzpunkte: die Dauer und den Wechsel. Aus diesem Befund wird durch einen Prozeß intersubjektiver Konstitution die „objektive Zeit“ gebildet als ein für alle Menschen gleiches Kontinuum von Zeitpunkten, in dem etwas dauern oder wechseln kann, das aber selbst gegen diesen Unterschied neutral ist. Die Paradoxie dieses Unterschiedes wird also gleichsam durch den Zeitbegriff unterlaufen, aber sie bleibt erhalten als Gegensatz zweier einander ausschließender Weisen der Identifikation in der Zeit.
Entweder kann nämlich etwas als Ereignis identifiziert werden, das an einem Zeitpunkt feststeht, unabhängig vom je gegenwärtigen Erleben, das auf der Skala der Zeitpunkte voranschreitet, unaufhörlich Zeitpunkt für Zeitpunkt aus der Zukunft in die Vergangenheit überführend. Das Ereignis hat seine zeitpunktbezogene Identität also unabhängig von der Qualifikation als künftig, gegenwärtig oder vergangen, und der Sinn seiner Identität ist gerade diese Invarianz gegenüber dem Wechsel der Zeitqualitäten.