Macht. Niklas Luhmann

Macht - Niklas  Luhmann


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Vor allem aber können wir uns bei dieser Ausrichtung der Analysen auf die Ebene des Gesellschaftssystems zu nutze machen – und das führt über die bloße Bezeichnung der Macht als Ausdruck oder als abhängige Variable des sozialen Faktums Gesellschaft hinaus –, daß die neuere Gesellschaftstheorie mit drei verschiedenartigen, aber integrierbaren Konzepten arbeitet, nämlich (1) mit einer Theorie der Systembildung und Systemdifferenzierung; (2) mit einer Theorie der Evolution; und (3) mit einer erst in Ansätzen sichtbaren Theorie symbolisch generalisierter Medien der Kommunikation. Die Gegenstände dieser Theorien sind auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher Systembildung als interdependent zu sehen in der Weise, daß die gesellschaftliche Evolution zu größeren, komplexeren, stärker differenzierten Gesellschaftssystemen führt, die zur Überbrückung eines höheren Differenzierungsgrades höher generalisierte und zugleich spezialisierte Medien der Kommunikation ausbilden und die gesellschaftlich prominenten Teilsysteme diesen Medien zuordnen. Dieser Zusammenhang kann hier nicht als ganzer ausgearbeitet [9]werden. Wir stellen uns die Teilaufgabe zu klären, was es besagen könnte, wenn man Macht als symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation behandelt und Machtanalysen auf diese Weise in einen gesellschaftstheoretischen Zusammenhang einordnet.

      [10][11]I. Macht als Kommunikationsmedium

      Die Theorie der Kommunikationsmedien bietet als Grundlage der Machttheorie den Vorteil, die Möglichkeit eines Vergleichs der Macht mit andersartigen Kommunikationsmedien an Hand identisch gehaltener Fragestellungen zu eröffnen – eines Vergleichs zum Beispiel mit Wahrheit oder mit Geld. Diese Fragestellungen dienen also nicht nur der Klärung des Phänomens Macht, sondern zugleich einem breiter orientierten Vergleichsinteresse und dem Austausch theoretischer Anregungen aus verschiedenen Medienbereichen. Die Machttheorie zieht daraus neben solchen Anregungen den Nutzen eines Überblicks über Formen des Einflusses, die außerhalb eines eingegrenzten Konzepts der Macht behandelt werden. Das ermöglicht es, eine oft zu beobachtende Überfrachtung des Machtbegriffs mit Merkmalen eines sehr breit und unbestimmt gefaßten Einflußprozesses zu vermeiden4.

      Um einzuleiten, sind daher einige kursorische Bemerkungen zur Theorie der Kommunikationsmedien erforderlich5.

      1. In ihren aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Hauptbestandsteilen ist die Gesellschaftstheorie einerseits Theorie der sozialen Differenzierung nach Schichtung und nach funktionalen Subsystemen und andererseits Theorie der sozio-kulturellen Evolution. Beide Ausgangspunkte haben sich verbunden in der These, daß die sozio-kulturelle Evolution auf zunehmende Differenzierung hinauslaufe. In diesem Bezugsrahmen blieben Fragen der Kommunikation und Fragen der Motivation zur Annahme und Befolgung von Kommunikationen unterbelichtet. Sie wurden teils als bloß psychologische Tatbestände gesehen und den Individuen zugerechnet, so daß man sie bei einer makrosoziologischen Betrachtungsweise übergehen konnte; teils wurden sie unter Sonderbegriffe wie Konsens, Legitimität, informale Organisation, Massenkommunikation und Ähnliches gebracht. Beide Problembehandlungen führten auf Konzepte geringeren Ranges und geringerer [12]Reichweite im Vergleich zu den Begriffen Differenzierung und Evolution. Fragen der Kommunikation und der Motivation waren so aus der Gesellschaftstheorie zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber sie waren nicht ebenbürtig mit den Hauptbegriffen. Dagegen konnte man dann im Namen eines vermeintlich humanen Interesses auftreten und die verlorene Menschlichkeit einklagen, ohne damit mehr zu erreichen als einen nicht niveaugerecht artikulierten Proteste6.

      Der Versuch, eine allgemeine Theorie symbolisch generalisierter Kommunikation zu formulieren und sie mit dem Konzept der Gesellschaftsdifferenzierung sowie mit Aussagen über Mechanismen und Phasen der sozio-kulturellen Evolution zu verknüpfen, zielt darauf ab, diesen Mangel zu beheben. Dabei soll ein Rückgriff auf das »Subjekt« im Sinne der Transzendentalphilosophie ebenso vermieden werden wie der Anspruch, das organisch-psychisch konkretisierte Individuum zu behandeln. Der eine Ausweg wäre zu abstrakt, der andere zu konkret für soziologische Theorie7. Statt dessen gehen wir von der Grundannahme aus, daß soziale Systeme sich überhaupt erst durch Kommunikation bilden, also immer schon voraussetzen, daß mehrfache Selektionsprozesse einander antizipativ oder reaktiv bestimmen. Erst aus den Notwendigkeiten selektiver Akkordierung entstehen soziale Systeme, so wie andererseits solche Notwendigkeiten erst in sozialen Systemen erfahren werden. Die Bedingungen der Möglichkeit dieses Zusammenhanges sind Resultat der Evolution und ändern sich mit ihr. So wie Evolution die zeitliche und Differenzierung die sachliche, artikuliert Kommunikation die soziale Sinnhaftigkeit des Gesellschaftssystems.

      Kommunikation kommt nur zustande, wenn man die Selektivität einer Mitteilung verstehen und das heißt: zur Selektion eines eigenen Systemzustandes verwenden kann8. Das impliziert Kontingenz auf beiden Seiten, also auch Möglichkeiten der Ablehnung von kommunikativ übermittelten Selektionsofferten. Diese Möglichkeiten der Zurückweisung können als Möglichkeiten nicht eliminiert werden. Eine Rückkommunikation von Ablehnung [13]und die Thematisierung der Ablehnung in sozialen Systemen ist Konflikt. Alle sozialen Systeme sind potentiell Konflikte; nur das Ausmaß der Aktualisierung dieses Konfliktpotentials variiert mit dem Ausmaß der Systemdifferenzierung und mit der gesellschaftlichen Evolution.

      Bei diesen Konstitutionsbedingungen kann die Wahl zwischen Ja und Nein nicht allein durch die Sprache gesteuert werden, denn diese gewährt ja gerade beide Möglichkeiten; noch kann sie dem Zufall überlassen bleiben. Es gibt deshalb in jeder Gesellschaft Zusatzeinrichtungen zur Sprache, die in erforderlichem Umfange die Übertragung von Selektionsleistungen sicherstellen. Der Bedarf dafür steigt und die Form dieser Einrichtungen ändert sich mit der Evolution des Gesellschaftssystems. In einfachen Gesellschaften wird diese Funktion im wesentlichen durch lebensweltlichgemeinsame »Realitätskonstruktionen« erfüllt, die den Kommunikationsprozessen als Selbstverständlichkeiten zu Grunde liegen9. Die Sprache dient in hohem Maße der Vergewisserung solcher Selbstverständlichkeiten, ihre Informations- und Negationspotentiale werden nicht ausgeschöpft10. Erst in fortgeschritteneren Gesellschaften entwickelt sich ein Bedarf für eine funktionale Differenzierung des Sprach-Codes im allgemeinen und besonderer symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien wie Macht oder Wahrheit, die speziell die Motivation zur Annahme von Selektionsofferten konditionieren und regulieren. Durch diese Differenzierung können Konflikts- und Konsenspotentiale in der Gesellschaft miteinander gesteigert werden. Die evolutionären Mechanismen der Variation und der Selektion brauchbarer, sozial erfolgreicher, übertragbarer Selektionen treten auseinander, und das beschleunigt die soziokulturelle Evolution, da jetzt aus mehr Möglichkeiten unter spezifischeren Gesichtspunkten gewählt werden kann.

      Historischer Anlaß für die Entwicklung besonders symbolisierter Kommunikationsmedien scheint die Erfindung und Verbreitung der Schrift gewesen zu sein, die das Kommunikationspotential der Gesellschaft über die Interaktion unter Anwesenden hinaus [14]immens erweitert und es damit der Kontrolle durch konkrete Interaktionssysteme entzogen hatte11. Ohne Schrift läßt sich der Aufbau komplexer Machtketten in politisch-administrativen Bürokratien nicht durchführen, geschweige denn eine demokratische Kontrolle politischer Macht. Ostrazismus setzt Schrift voraus. Das Gleiche gilt für die diskursive Entwicklung und Fortschreibung komplexerer Wahrheitszusammenhänge12. Die Sortierfunktion eines logisch schematisierten Wahrheits-Codes wird erst benötigt, wenn schriftlich formuliertes Gedankengut vorliegt. Aber auch die moralische Generalisierung eines Sonder-Codes für Freundschaft/ Liebe (philía, amicitia) in der griechischen Polis ist eine Reaktion auf städtische Schriftkultur, eine Kompensation für eine nicht mehr vorauszusetzende Interaktionsdichte der Nahestehenden (philói). Erst recht ist diese Schriftabhängigkeit beim Geld-Code evident. Erst die Zweit-Codierung der Sprache durch Schrift löst den gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß so stark aus den Bindungen an soziale Situationen und an Selbstverständlichkeiten heraus, daß für Motivation zur Annahme von Kommunikationen derartige Spezial-Codes geschaffen werden müssen, die zugleich auch konditionieren, was erfolgreich behauptet und beansprucht werden kann.

      2. Unter Kommunikationsmedien soll nach all dem verstanden werden eine Zusatzeinrichtung zur Sprache, nämlich ein Code generalisierter Symbole, der die Übertragung von Selektionsleistungen steuert. Zusätzlich zur Sprache, die im Normalfall die intersubjektive Verständlichkeit, das heißt das Erkennen der Selektion des je anderen als Selektion gewährleistet, haben Kommunikationsmedien mithin auch eine Motivationsfunktion,


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