Macht. Niklas Luhmann

Macht - Niklas  Luhmann


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würde nämlich zu Unrecht vorausgesetzt werden, daß ein fertiger Willensentschluß, der dann gebrochen wird, immer schon vorliegt (und empirisch feststellbar ist). Faktisch macht jedoch die Existenz eines Machtgefälles und einer antizipierbaren Machtentscheidung es für den Unterworfenen gerade sinnlos, überhaupt einen Willen zu bilden. Und gerade darin besteht die Funktion von Macht: Sie stellt mögliche Wirkungsketten sicher unabhängig vom Willen des machtunterworfenen Handelnden – ob er will oder nicht. Die Kausalität der Macht besteht in der Neutralisierung des Willens, nicht unbedingt in der Brechung des Willens des Unterworfenen. Sie betrifft diesen auch und gerade dann, wenn er gleichsinnig handeln wollte und dann erfährt: er muß ohnehin. Die Funktion der Macht liegt in der Regulierung von Kontingenz. Wie jeder andere Medien-Code bezieht sich auch der Macht-Code auf eine mögliche (!) – nicht notwendig auf eine wirkliche – Diskrepanz der Selektionsleistungen von Alter und Ego, indem er sie »egalisiert«.

      Die Macht des Machthabers ist demnach als Ursache und selbst als potentielle Ursache nicht ausreichend beschrieben. Eher läßt sie sich mit der komplexen Funktion eines Katalysators vergleichen. Katalysatoren beschleunigen (bzw. verlangsamen) den Eintritt von Ereignissen; sie verändern, ohne sich selbst dabei zu ändern, die Eintrittsrate bzw. Wahrscheinlichkeit, die bei zufälligen Beziehungen zwischen System und Umwelt zu erwarten wäre. Sie produzieren letztlich also Zeitgewinn – einen für den Aufbau komplexer Systeme immer kritischen Faktor. Dabei sind sie, und das werden wir in Anlehnung an Kant auch mit dem Begriff des [20]Schematismus ausdrücken, allgemeiner als ihr jeweiliges Produkt; sie verändern sich in der Katalyse nicht oder nicht in gleichem Maße, wie der beschleunigte (bzw. verlangsamte) Prozeß Wirkungen erzeugt oder verhindert.

      Wenn man sich bewußt bleibt, daß damit eine reale Struktur (und nicht nur: eine analytische Zusammenfassung) gemeint ist25, kann man somit formulieren, daß Macht eine Chance ist, die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern26. Realen Wahrscheinlichkeiten wohnt eine Tendenz zur Selbstverstärkung inne: Wenn man weiß, daß etwas wahrscheinlich ist, rechnet man lieber mit dem Eintritt als mit dem Nichteintritt des Ereignisses, und je höher die Relevanz, desto niedriger die Schwelle, die einen solchen Prozeß ins Rollen bringt. Das Entsprechende gilt aber, wie jeder Autofahrer weiß, auch für Unwahrscheinlichkeiten. Es bedarf also jeweils einer Vorentscheidung, ob ein ungewisses Ereignis für (sehr/ziemlich/wenig) wahrscheinlich oder für (wenig/ziemlich/sehr) unwahrscheinlich angesehen wird. Dabei können rein psychologische Gesetzmäßigkeiten eine Rolle spielen27. Darüber hinaus werden soziale Situationsdefinitionen einwirken und die Wahrnehmung des Wahrscheinlichen bzw. Unwahrscheinlichen beeinflussen. Und diese Situationsdefinitionen können ihrerseits durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien modalisiert sein.

      Die katalytische Funktion der Macht beruht nach all dem ihrerseits bereits auf sehr komplexen Kausalzusammenhängen. Eben deshalb ist Macht nur als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu begreifen. Durch Abstraktion in Richtung auf symbolisch kontrollierte Selektionszusammenhänge wird zugleich erreicht, daß die Macht nicht als abhängig gesehen wird von einer unmittelbar handelnden Einwirkung des Machthabers auf den Machtunterworfenen28. Vorausgesetzt ist nur Kommunikation überhaupt, also daß der Machtunterworfene auf welchen Umwegen immer von der Selektivität (nicht nur von der Existenz!)29 vergangener oder künftiger Machthandlungen des Machthabers [21]erfährt. Es ist geradezu eine Funktion der Generalisierung des Kommunikationsmediums Macht, solche Umwege zu ermöglichen, ohne damit die Identifizierbarkeit des Macht-Code und der Kommunikationsthemen aufzuheben.

      4. Für alle Kommunikationsmedien ist typisch, daß ihrer Ausdifferenzierung eine besondere Interaktionskonstellation und in deren Rahmen eine spezifische Problemstellung zu Grunde liegt. Kommunikationsmedien heben sich nur dort aus den Selbstverständlichkeiten gemeinsamer Lebensführung heraus, wo Einfluß kontingent und dadurch zunächst einmal eher unwahrscheinlich ist. Nur wenn und soweit Güter knapp sind, wird der handelnde Zugriff des einen zum Problem für andere, und diese Situation wird dann durch ein Kommunikationsmedium geregelt, das die Handlungsselektion des einen in das Miterleben anderer überführt und dort akzeptierbar macht30. Im Horizont von Knappheit wird Einfluß in einer ganz besonderen Weise prekär, so daß sich an Hand dieser Sondersituation ein spezifisch generalisiertes Kommunikationsmedium bilden kann, das die Übertragung reduzierter Komplexität für diesen Fall, aber nicht für andere ermöglicht. Nicht anders entsteht Wahrheit. Auch hier muß es im Rahmen allgemeiner lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten und Glaubwürdigkeiten zunächst zu einer gewissen Unwahrscheinlichkeit der Information kommen, bevor Prüfkriterien in Funktion treten und ein besonderer Code sich herausbilden kann, der die Feststellung von Wahrheiten und Unwahrheiten reguliert. Wahrheit ist überwundener Zweifel. Ihr Auslöser kann die schlichte Enttäuschung kognitiver Erwartungen sein, aber auch ein verschärft abstrahiertes Auflösungsvermögen kognitiver Instrumente.

      Auch zur Ausbildung des Kommunikationsmediums der Macht ist ein solcher focus, ein Durchgang durch gesteigerte Kontingenz erforderlich. Nicht jede Ausführung einer zugemuteten Handlung wird problematisch. Man läßt nicht fallen, was einem gegeben wird, sondern nimmt es an, hält es fest usw. Aber in Sonderfällen, wenn der Zumuter sich sozusagen aufs Zumuten [22]beschränkt und sein eigenes Handeln darauf spezialisiert, das Handeln anderer vorzuschreiben, trägt der konkrete Kontext die Selektionsübertragung nicht mehr. Mit der Kontingenz der Selektion steigt auch die Verlockung zur Negation. Dann kommt eine Übertragung von Selektionsleistungen nur noch unter besonderen Voraussetzungen zustande, und diese Voraussetzungen rekonstruiert und institutionalisiert der Macht-Code. Sie werden erst mit Hilfe eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Grundlage zuverlässiger Erwartungen.

      Es ist schwierig, diesen Problembezug in eine Definition einzufangen, die eindeutig angibt, was Macht ist und was sie nicht ist. Der Problembezug generiert jedoch Zusammenhänge, und diese lassen sich beschreiben. Man kann sagen: Je stärker Einfluß kontingent wird, indem er sich als ein Handeln zu erkennen gibt, das die eigene Selektivität darauf spezialisiert, fremdes Handeln auszulösen, desto weniger kann eine natürlich-situative Interessenkongruenz unterstellt werden, desto problematischer wird die Motivation und desto notwendiger wird ein Code, der die Bedingungen der Selektionsübertragung und die Zuschreibung der entsprechenden Motive regelt. Dieser von Interaktionskonstellationen ausgehende Ansatz kann dann in die Theorie gesellschaftlicher Evolution übernommen werden mit der These, daß bei zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung Situationen häufiger werden, in denen trotz so hoher Kontingenz und Spezialisierung Selektionsübertragungen stattfinden müssen, wenn ein erreichtes Entwicklungsniveau gehalten werden soll. In wichtigen Funktionsbereichen stellt sich situative Interessenkongruenz nicht mehr häufig und nicht mehr spezialisiert genug ein, daß damit auszukommen wäre. Dann wird die Entwicklung eines problembezogenen Sonder-Codes für Macht zum Engpaß weiterer Evolution.

      Auch diese Argumentation hat ihre Parallelen in anderen Medienbereichen und wird dadurch mitgestützt. Erst von einem gewissen Entwicklungsstande ab wird die tägliche Kommunikation so informationsreich, daß Wahrheit zum Problem wird. Erst von [23]einem gewissen Entwicklungsstande ab wird der Güterbestand so groß, daß es Sinn hat, ihn unter dem Gesichtspunkt der Knappheit für kontingenten Zugriff offen zu halten. Man könnte ferner sagen: Liebe wird als ein besonderer Kommunikations-Code erst nötig, wenn die Emotionen und Welt-Sichten anderer so stark individualisiert – und das heißt: kontingent geworden – sind, daß man ihrer nicht mehr sicher sein kann und deshalb nach Maßgabe kultureller Vorschriften selbst lieben muß. Und auch Kunst ist als Kommunikationsmedium abhängig von gesteigerter Kontingenz – nämlich von der Kontingenz offensichtlich hergestellter, aber vom konkreten lebensweltlichen Zweckkontext nicht mehr getragener Werke. Mit all dem sind spezialisierte Interaktionsproblematiken, nämlich Varianten des Problems der Selektionsübertragung, und zugleich evolutionäre Lagen des Gesellschaftssystems bezeichnet.

      5. Die vielleicht wichtigste Veränderung gegenüber älteren Machttheorien liegt darin, daß die Theorie der Kommunikationsmedien das Phänomen Macht auf Grund einer Differenz von Code und Kommunikationsprozeß begreift und deshalb nicht in der Lage ist, Macht einem der Partner als Eigenschaft oder als Fähigkeit zuzuschreiben31. Macht »ist« eine codegesteuerte Kommunikation. Die Zurechnung der Macht auf den Machthaber wird in diesem Code geregelt mit weittragenden


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