Macht. Niklas Luhmann

Macht - Niklas  Luhmann


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Selektionsaktes als Freiheit (im Unterschied zu Zufall) und in der neueren Zeit vor allem die Zuschreibung von Motiven40 und Absichten41. Freier Wille ist ein alteuropäisches, Motiviertheit ein neuzeitliches Attribut des Handelns – in jedem Falle kein primäres Faktum, etwa [29]gar eine »Ursache« des Handelns42, sondern eine Zuschreibung, die das sozial einhellige Erleben von Handeln ermöglicht. Motive sind kein Erfordernis des Handelns, wohl aber ein Erfordernis des verständlichen Erlebens von Handlungen. Auf der Ebene der Motivzuschreibungen wird eine Sozialordnung daher sehr viel stärker integriert sein als auf der Ebene des Handelns selbst. Verständnis von Motiven hilft dann rückläufig zur Erkenntnis darüber, ob überhaupt eine Handlung vorliegt43.

      Die Funktion des Kommunikationsmediums Macht ist daher nicht ausreichend beschrieben, wenn man meint, es gehe nur darum, den Machtunterworfenen zur Annahme der Weisungen zu bewegen. Auch der Machthaber selbst muß zur Ausübung seiner Macht bewegt werden, und darin liegt in vielen Fällen die größere Schwierigkeit. Liegt es nicht gerade für ihn, der im Zweifel unabhängiger ist, näher, sich zurückzuziehen und die Dinge laufen zu lassen? Auch die Motivation dessen, der Selektionsleistungen überträgt, wird erst im Kommunikationsprozeß aufgebaut und zugeschrieben. Gerade dem Machthaber werden, ob er will oder nicht, auf Grund seiner Macht Erfolge und Mißerfolge zugerechnet und dazu passende Motive oktroyiert. Macht instrumentiert also nicht einen schon vorhandenen Willen, sie erzeugt diesen Willen erst und sie kann ihn verpflichten, kann ihn binden, kann ihn zur Absorption von Risiken und Unsicherheiten bringen, kann ihn sogar in Versuchung führen und scheitern lassen. Die generalisierten Symbole des Code, die Aufgaben und Insignien des Amtes, die Ideologien und Legitimationsbedingungen dienen der Artikulationshilfe; aber erst der Kommunikationsprozeß selbst legt mit der Machtausübung zugleich die Motive fest.

      2. Vor diesem Hintergrund muß man die Spezialisierung eines Mediums begreifen, das die Übertragung von Handlungsselektionen auf Handlungsselektionen leistet, also beide Partner voraussetzt als Systeme, denen ihre Selektion als Handlung zugerechnet wird. Der Machtunterworfene wird erwartet als jemand, der sein eigenes Handeln wählt und darin die Möglichkeit der Selbstbestimmung [30]hat; nur deshalb werden Machtmittel, etwa Drohungen, gegen ihn eingesetzt, um ihn in dieser selbstvollzogenen Wahl zu steuern. Und auch der Machthaber nimmt in Anspruch, nicht einfach die Wahrheit zu sein, sondern seinem Willen gemäß zu handeln. Damit ist in der Beziehung beider die Möglichkeit zurechenbarer, »lokalisierbarer« Divergenz postuliert. Eine Übertragung reduzierter Komplexität kommt zustande, wenn und soweit Alters Handeln die Selektion von Egos Handeln mitbestimmt. Der Erfolg einer Machtordnung besteht in der Steigerung noch überbrückbarer Situations- und Selektionsdifferenzierungen.

      Dazu ist ein Umweg über Negationen erforderlich, der gewisse Anforderungen an den Code der Macht stellt. Wenn Macht eine Kombination von gewählten Alternativen leisten soll und andere Möglichkeiten im Spiel sind, kann die Wahrscheinlichkeit dieser Kombination nur durch eine parallellaufende Koordination des Ausscheidens von Alternativen gewährleistet werden. Macht setzt voraus, daß beide Partner Alternativen sehen, deren Realisierung sie vermeiden möchten. Auf beiden Seiten muß es mithin über die bloße Mehrheit von Möglichkeiten hinaus eine Ordnung von Präferenzen geben, die unter dem Gesichtspunkt von eher positiver und eher negativer Bewertung schematisiert und für die andere Seite einsichtig sein muß44. Unter dieser Voraussetzung kann eine hypothetische Kombination von Vermeidungsalternativen beider Seiten hergestellt werden – am einfachsten durch Drohung mit Sanktionen, die der Machthaber selbst lieber vermieden sähe: »Wenn Du dies nicht tust, schlage ich Dich!«. Auch das allein genügt noch nicht. Zur Machtausübung kommt es erst, wenn die Beziehung der Beteiligten zu ihren jeweiligen Vermeidungsalternativen unterschiedlich strukturiert ist derart, daß der Machtunterworfene seine Alternative – in unserem Beispiel: die des physischen Kampfes – vergleichsweise eher vermeiden möchte als der Machthaber, und auch diese Relation zwischen den Relationen der Beteiligten zu ihren Vermeidungsalternativen für die Beteiligten erkennbar ist. Kurz gesagt: Der Macht-Code muß eine Relationierbarkeit von Relationen gewährleisten. Bei dieser Voraussetzung [31]entsteht die Möglichkeit einer konditionalen Verknüpfung der Kombination von Vermeidungsalternativen mit einer weniger negativ bewerteten Kombination von anderen Alternativen. Diese Verknüpfung motiviert die Übertragung von Handlungsselektionen vom Machthaber auf den Machtunterworfenen.

      Sie gibt dem Macht, der darüber entscheiden kann, ob eine solche konditionale Verknüpfung von Möglichkeitskombinationen hergestellt wird oder nicht45. Macht beruht mithin darauf, daß Möglichkeiten gegeben sind, deren Verwirklichung vermieden wird. Das Vermeiden von (möglichen und möglich bleibenden) Sanktionen ist für die Funktion von Macht unabdingbar46. Jeder faktische Rückgriff auf Vermeidungsalternativen, jede Ausübung von Gewalt zum Beispiel, verändert die Kommunikationsstruktur in kaum reversibler Weise. Es liegt im Interesse der Macht, eine solche Wendung zu vermeiden. Macht ist damit schon strukturell (und nicht erst: rechtlich!) aufgebaut auf Kontrolle des Ausnahmefalles. Sie bricht zusammen, wenn es zur Verwirklichung der Vermeidungsalternativen kommt47. Daraus folgt unter anderem, daß hochkomplexe Gesellschaften, die weit mehr Macht benötigen als einfachere Gesellschaften, die Proportion von Machtausübung und Sanktionsanwendung ändern und mit einem verschwindend geringen Anteil an faktischer Realisierung von Vermeidungsalternativen auskommen müssen48.

      Diese Angaben bedürfen im Hinblick auf das Verhältnis von negativen und positiven Sanktionen einer weiteren Klärung. Negative und positive Sanktionen unterscheiden sich – trotz logischer Symmetrisierbarkeit – in den Voraussetzungen, an die sie anknüpfen, und in ihren Folgen so wesentlich49, daß die Ausdifferenzierung und Spezifikation von Kommunikationsmedien diesen Unterschied nicht übergehen kann. Liebe, Geld und Überredung zu Wertkonsens lassen sich nicht als Fälle von Macht spezifizieren. Wir beschränken deshalb den Machtbegriff auf den Fall, der mit dem (allerdings erläuterungsbedürftigen) Begriff der negativen Sanktion gemeint war50. Macht wird nur dann angewandt, wenn gegenüber einer gegebenen Erwartungslage eine [32]ungünstigere Alternativenkombination konstruiert wird. Die Unterscheidung ungünstiger/günstiger ist erwartungsabhängig und damit auch zeitpunktabhängig51. Die Ausgangslage kann sehr wohl auf positiven Leistungen des Machthabers beruhen – etwa auf Schutzversprechen, Liebeserweisen, Zahlungsversprechen; sie wird in Macht aber nur dann transformiert, wenn nicht schon die Ausgangslage selbst, sondern ihr Entzug vom Verhalten des Unterworfenen abhängig gemacht wird. Staatliche Subventionen, die mit Auflagen verknüpft werden, sind als solche keine Machtäußerung ebenso wenig wie ein normaler Kauf; sie werden zur Machtbasis erst, wenn mit der Drohung der Streichung ein im Subventionsprogramm nicht vorgesehenes Verhalten (z. B. Unterlassen regierungskritischer Äußerungen) durchgesetzt werden soll. Der Unterschied liegt darin, daß bei vorheriger Konditionierung positiver Leistungen der Betroffene frei kalkulieren kann, daß er bei nachträglicher Konditionierung mit Entzugsdrohung dagegen Erwartungen schon gebildet hatte, sich schon eingerichtet hatte und deshalb stärkeren Schutz verdient. Deshalb unterscheidet sich auch der Legitimationsbedarf positiver und negativer Sanktionen. Und andererseits mag gerade dieser Weg, positive Leistungen in negative Sanktionen zu transformieren, dem Machthaber Motivquellen und Einwirkungschancen erschließen, an die er sonst nicht herankäme. Weitgehend beruht die durch Organisation gebildete Macht auf diesem Umweg.

      Wir kehren nach diesen Klarstellungen zum Hauptthema zurück. Unter der Einwirkung einer so kompliziert gebauten, durch Negationen vermittelten Medienstruktur, die die Selektivität des Verhaltens beider Partner betont herausarbeitet und forciert, wird Handeln zum Entscheiden, das heißt zur bewußt selektiven Wahl. Die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit eines solchen ausdifferenzierten, symbolisch generalisierten Codes spiegelt sich auf der Prozeßebene in Entscheidungszumutungen, die für den Machtunterworfenen, aber auch für den Machthaber selbst unbequem werden können. Man wird daher nicht überrascht sein können, wenn sich bei zunehmend komplexen Selektionsfeldern herausstellt, [33]daß Machtprobleme letztlich in Entscheidungsschwierigkeiten kulminieren.

      3. Die Grundstruktur des Kommunikationsmediums Macht, jene – man kann es leider nicht einfacher formulieren – invers konditionalisierte Kombination von relativ negativ bewerteten und relativ positiv bewerteten Alternativenkombinationen, ist die Grundlage dafür, daß Macht als


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