Max Weber. Volker Kruse

Max Weber - Volker Kruse


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eines möglichen zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Umsturzes.

      In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst in Deutschland und Europa die Arbeiterschaft rasch an. Die Lebensverhältnisse sind schwierig, ja erbärmlich, die Löhne so niedrig, dass Kinder- und Frauenarbeit an der Tagesordnung sind. Die Wohnverhältnisse in den schnell errichteten Arbeitervierteln der entstehenden Großstädte sind trostlos und ungesund. Es entsteht, wie die Pariser Kommune angezeigt hat, eine revolutionär gestimmte Arbeiterbewegung; die Arbeiterparteien, z. B. die Sozialdemokratie in Deutschland, gewinnen rasch Mitglieder und Wähler. Unter diesen Bedingungen macht man sich in den Regierungen und im wohlhabenden Bürgertum Gedanken, wie man einer möglichen gesellschaftlichen Umwälzung durch das Proletariat entgegenwirken könne. Als geeignetes Mittel erscheinen in Deutschland – neben politischer Repression – sozialpolitische Reformen. 1872 gründet Gustav Schmoller (1838–1917), der führende Nationalökonom im Deutschen Reich, den Verein für Sozialpolitik, in dem Wissenschaftler, hohe Beamte und Politiker zusammentreffen. Ziel des Vereins ist, gegen den heftigen Widerstand im liberalen Bürgertum soziale Reformen durchzusetzen. Um eine zielgenaue Politik betreiben zu können, lässt er Untersuchungen zur Lage einzelner sozialer Gruppen durchführen.

      Max Weber schließt sich Gustav Schmoller und dem Verein für Sozialpolitik an und führt 1891 die schon erwähnte Untersuchung zur Lage der ostelbischen Landarbeiter durch. Sein Eintreten für soziale Reformen ist nicht so sehr von karitativen oder ethischen Motiven getragen. Er hält diese vielmehr wegen der Strukturveränderungen des industriellen Kapitalismus für notwendig und im Sinne nationaler Machtpolitik für angezeigt. Für einen Erfolg deutscher imperialer Machtpolitik, wie Weber sie befürwortet, erscheint eine Integration der deutschen Arbeiterschaft in die Gesellschaft vorteilhaft, wenn nicht sogar unabdingbar.

      Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. In allen beteiligten Ländern (v. a. Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, England, Russland) kommt es zu Manifestationen der Kriegsbegeisterung, die auch vor den Gelehrten nicht Halt macht. Angesehene Professoren stellen sich mit nationalistischen Schriften, welche die Kriegsmotivation wecken und aufrechterhalten sollen, »in den Dienst des Vaterlandes«. [18]In Deutschland unterzeichnen im Jahr 1915 1347 Professoren und Intellektuelle eine Denkschrift, die einen Frieden mit umfangreichen Gebietsgewinnen in West und Ost fordert (Radkau 2005, S. 710 f.).

      Demgegenüber verhält sich Max Weber relativ moderat, auch wenn er den Krieg als »groß und wunderbar« begrüßt (Marianne Weber 1989, S. 530). Er interpretiert den Krieg vor allem als ein Gemeinschaftserlebnis, das die Klassengesellschaft zu überwinden und die nationale Gemeinschaft herzustellen vermag. Er gehört zur Minderheit der deutschen Professoren, die einer indirekten Imperialpolitik – die Hegemonie über kleinere, noch zu gründende Staaten in Osteuropa – aufgeschlossen gegenüber steht, aber in einer Gegen-Denkschrift vor Annexionen warnt.

      Weber ist im ersten Kriegsjahr als Disziplinaroffizier für die Heidelberger Lazarette aktiv, was seine Arbeitskraft voll absorbiert. Nach Dienstende Ende September 1915 (im Zuge einer Umorganisation des Heidelberger Lazarettwesens) scheitern seine Ambitionen, in der Berliner Ministerialbürokratie eine Anstellung zu finden. So zieht er sich 1916 wieder nach Heidelberg zurück und verfasst religionssoziologische Aufsätze. Außerdem tritt er als Vortragsredner und Verfasser von Zeitungsartikeln und Denkschriften hervor.

      Das Deutsche Reich unterliegt seit Kriegsbeginn einer Blockade durch die englische Flotte und es geht 1916 um die Frage, ob es einen unbeschränkten U-Boot-Krieg gegen das britische Mutterland führen soll. Das könnte auch zu Versenkungen von US-Schiffen führen und den Kriegseintritt der neutralen USA an der Seite der Entente provozieren. Weber warnt, u. a. in einer Denkschrift, die auch den Kaiser erreicht und beeindruckt, vor einem uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Anders als viele Generäle und Professoren, welche die Kampfeskraft der USA für gering erachten, schätzt Weber, der 1904 einige Wochen das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bereiste, deren ökonomisches und militärisches Potential realistisch ein. Nach längerem Tauziehen in der politischen und militärischen Führung setzt das Deutsche Reich schließlich auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der, gepaart mit diplomatischen Ungeschicklichkeiten, am 6. April 1917 zum Kriegseintritt der USA führt.

      Webers Prognose, dass damit der Krieg verloren sei, bewahrheitet sich im folgenden Kriegsjahr. Das wachsende Übergewicht der Gegner und der Zusammenbruch der deutschen Verbündeten veranlassen die Führung des Deutschen Reichs, um Waffenstillstand zu bitten. Bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles 1919, der einem Diktat der Siegermächte gleichkommt, zählt Weber zur deutschen Delegation.

      Webers Versuche, in der Weimarer Republik eine politische Karriere zu starten, scheitern. Die linksliberale Deutsche Demokratische Partei setzt ihn auf einen aussichtslosen Listenplatz. An der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung ist er beratend beteiligt. Er plädiert für eine starke Stellung des Reichspräsidenten. Sein unerwarteter Tod im Juni 1920 beendet alle politischen Ambitionen.

      Im 19. Jahrhundert herrschen in Deutschland und Europa ein optimistisches Geschichtsverständnis und eine zuversichtliche Haltung gegenüber der heraufziehenden Moderne vor. Diese Tendenz wird in Deutschland durch die Reichseinigung und die Prosperitätsphase der »Gründerjahre« noch verstärkt. Selbst Karl Marx, der sich mit den Schattenseiten des modernen Kapitalismus auseinandersetzt, lobt die progressive Kraft der Bourgeoisie, welche die Produktivkräfte vorantreibe und da -mit letztlich dem Sozialismus und Kommunismus als höheren Geschichtsstufen den Weg bereite. Viele Arbeiter leben in der Hoffnung auf einen sozialistischen »Zukunftsstaat«. Im Bürgertum ist im 19. Jahrhundert die aufklärerische Vorstellung, dass Geschichte ein Fortschrittsprozess in Richtung auf immer größere Vernünftigkeit, Selbstbestimmung des Menschen und Beherrschung der Natur sei, noch weit verbreitet.

      Um 1890 ändert sich die kulturelle Großwetterlage. Zwar verschwindet der Fortschrittsoptimismus, gespeist durch technische Innovationen und imperiale Erfolge, nicht, aber in bürgerlichen, insbesondere in intellektuellen Schichten macht sich daneben eine andere Stimmung breit. Es ist die Zeit, in der sich der moderne Kapitalismus mit all seinen Begleiterscheinungen augenfällig durchsetzt, Großstädte mit großen Arbeiterquartieren wie Pilze aus dem Boden schießen und Großorganisationen an Bedeutung gewinnen. Dies alles wirft Fragen auf: Sind die Massen – oder die Menschen in der Masse – wirklich vernünftig und rational oder sind sie nicht eher unberechenbar, irrational und triebgesteuert? Geht mit der städtischen Zivilisation nicht der Bezug zur Natur verloren? Schafft die Moderne wirklich Freiheit oder bedeutet das Leben in der Großorganisation nicht eher Zwang? Welch einen Typus von Mensch bringen die neuen Lebensformen hervor? Führt die moderne Zivilisation, wie z. B. Emile Durkheim befürchtet, zur »Anomie«?

      Diese Stimmung bringt besonders der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) zum Ausdruck, der die Tugenden eines saturierten, selbstzufriedenen Bürgertums kritisiert und in heroisierender Manier die »Umwertung aller Werte« fordert. Nietzsche propagiert Stärke (als Selbstzweck), Aristokratismus und Schönheit. Der Wert einer Kultur bemesse sich nicht nach dem Durchschnitt, sondern nach den höchsten Exemplaren des Menschentums. Entsprechend forderte er den »neuen Menschen« bzw. »Übermenschen«. Er distanziert sich vom Fortschrittsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts und sieht die Gegenwart von einer tiefen Krise der europäischen Kultur bestimmt. Ausdruck dieser Kulturkrise sind für Nietzsche unter anderem die Arbeiterbewegung, der Sozialismus und die Sozialpolitik. Er stellt ebenso das Christentum, immer noch die kulturelle Leitfigur der Zeit, radikal in Frage, aber auch den zunehmend arbeitsteiligen, sich spezialisierenden Wissenschaftsprozess, besonders den »antiquarischen« Charakter historischer Forschung, welche die aktuellen Lebensfragen ignoriere.

      [20]Weber teilt das Unbehagen an der Moderne und bringt es in eindringlichen Worten zum Ausdruck. »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz«, »eisernes Gehäuse der Hörigkeit«, »Käfig« – so charakterisierte er den modernen Menschen und seine Welt (vgl. Kap. 6.5). Er schätzt Nietzsches Bedeutung hoch ein. Überhaupt bestimmen aus seiner Sicht Marx und Nietzsche das geistige und wissenschaftliche Leben seiner Zeit.


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