Max Weber. Volker Kruse
Insbesondere mit Blick auf die Lebensbedingungen der Industriearbeiter geht Weber der Frage nach, welche Auslese- und Anpassungsprozesse die Beschäftigung in der großindustriellen Produktion für die Arbeiter mit sich bringt. Es geht ihm darum, die Bedeutung des großindustriellen Kapitalismus für die zukünftige gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung insbesondere des Deutschen Reichs herauszuarbeiten. Begleitend diskutiert er in einer Aufsatzfolge unter dem Titel Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908/09) die einschlägige Literatur zum Thema. Wesentlicher Zweck seines »Literaturberichts« ist es, die von ihm diskutierten neueren naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze einer methodologischen Reflexion zu unterziehen. Dieses Vorgehen betrachtet er als eine notwendige Voraussetzung dafür, die künftige sozialwissenschaftliche Erforschung der Berufs- und Arbeitseignung der Industriearbeiterschaft konzeptionell zielführend voranzubringen.
1.3.3 Methodologische Arbeiten
In seinen methodologischen Arbeiten seit 1903 geht Weber der Frage nach, wie verschiedene kulturwissenschaftliche Disziplinen, wie Ökonomie und Geschichte, aber auch das neue, universitär noch nicht etablierte Fach der Soziologie, als Erfahrungswissenschaften im »strengen Sinne« betrieben werden können. Erfahrungswissenschaftliche Forschung heißt dabei für den kantianisch geschulten Weber, mit Hilfe wissenschaftlicher Begriffe eine »denkende Ordnung der empirisch gegebenen Wirklichkeit« herzustellen (vgl. Kap. 2). Unter dem Sammelbegriff der Kulturwissenschaften fasst er diejenigen Disziplinen, die die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten. Inwieweit einzelne kulturwissenschaftliche [24]Disziplinen systematisierend und verallgemeinernd oder eher historisch-individualisierend ausgerichtet sind, hängt für Weber von den spezifischen Wert- bzw. Erkenntnisinteressen des Wissenschaftlers ab. Er selbst bevorzugt eine grundlegend historisch-individualisierende Ausrichtung (vgl. Kap. 2).
Welche wissenschaftslogischen Beiträge sind unter den Arbeiten Webers besonders hervorzuheben? Zum einen sind die zwischen 1903 und 1906 unter dem Titel Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich erschienenen Studien zu nennen. In ihnen versucht Weber die logischen Schwächen der Forschung der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie herauszuarbeiten und zugleich eine theoretisch tragfähigere Neuausrichtung nationalökonomischer Forschung voranzubringen. Für ihn bedeutet dies insbesondere, in Abgrenzung von Schmoller über die wirtschaftsgeschichtliche Einzelforschung hinauszugehen. Zugleich lehnt er die verbreitete Entgegensetzung von theoretischer (Carl Menger) und historischer Nationalökonomie (Gustav Schmoller) als wissenschaftslogisch irreführend und unproduktiv ab (vgl. Kap. 2.1).
Zum zweiten ist der 1904 publizierte programmatische Aufsatz Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis zu berücksichtigen, den Weber anlässlich seines Eintritts in die Redaktion des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik verfasst. Seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen sind konzeptionell wiederum darauf gerichtet, zu klären, inwieweit auch die sozialwissenschaftliche Forschung auf eine strenge erfahrungswissenschaftliche Grundlage zu stellen ist. Als das Arbeitsgebiet sozialwissenschaftlicher Forschung definiert er die wissenschaftliche Erforschung der kulturellen Bedeutung der »sozialökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens«, wobei gemäß seines dezidiert historischen Erkenntnisinteresses deren jeweilige »historischen Organisationsformen« in den Blick rücken müssen.
Im zugehörigen Geleitwort entwickelt Weber zusammen mit den Mitherausgebern Werner Sombart und Edgar Jaffé die Grundzüge eines interdisziplinär ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhabens. Es solle sich dem »grundstürzenden Umgestaltungsprozess« widmen, der das wirtschaftliche und kulturelle Leben der Gegenwart bestimme und das Erleben der Zeitgenossen zutiefst präge. Die Dynamik der wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche lässt sich für Weber und seine Mitherausgeber nur aus der »weltgeschichtlichen Tatsache« des »Vordringens des Kapitalismus« erklären, der die gegenwärtige »Geschichtsepoche« bestimme. Diesen Zusammenhang wollen sie im Sinne einer historisch-sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnose genauer untersuchen. Erst durch genaue sozialwissenschaftliche Aufklärung sei in handlungspraktischer Absicht eine verlässliche Orientierung möglich. Um die spezifische kapitalistische Entwicklungsdynamik in Wirtschaft und Kultur der Gegenwart zu verstehen und zu erklären, müsse die sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose zudem durch historische Forschungen unterstützt werden.
[25]Zum dritten sind Webers 1906 erschienenen kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer und Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung hervorzuheben. In ihnen versucht er das für die Nationalökonomie und die Sozialwissenschaft relevante historische Forschungsinteresse insgesamt auf eine erfahrungswissenschaftlich tragfähige Grundlage zu stellen. Weber wendet sich gegen das objektivistische Wissenschaftsverständnis und das Verstehenskonzept, wie es in der damaligen deutschen Geschichtswissenschaft verbreitet ist. Diese beschränkt ihr Forschungsinteresse auf Staat und Politik und lehnt begriffliches Denken und theoretische Generalisierung ab. Zur genuin historischen Methode hat sie das Verstehen erklärt (vgl. Kap. 2.1).
Für einen Historiker wie etwa Leopold v. Ranke ist die Geschichte von willensmäßigen Handlungen erfüllt, die als Ausdruck des Geistes aufzufassen sind. Da Ranke den Menschen als Manifestation Gottes betrachtet, kann er den subjektiven menschlichen Geist und den objektiven göttlichen Geist als zusammenhängende Einheit begreifen. Der sich in der Geschichte manifestierende Geist bzw. die in der Geschichte wirkenden »Ideen« sind damit dem einfühlenden Verstehen des Historikers (»divinatorisches Verstehen«) prinzipiell zugänglich. Dagegen betrachtet es Weber als dringende Aufgabe, die, wie er es bezeichnet, unverändert gültige »metaphysische Wendung« in der zeitgenössischen geschichtswissenschaftlichen Forschung einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Er will für die historisch arbeitenden Kultur- und Sozialwissenschaften insgesamt die Frage beantworten, was es heißt, »Wissenschaft im strengen Sinne« zu betreiben.
Webers methodologische Texte enthalten zahlreiche wechselseitige Bezugnahmen und sind systematisch dem im Rahmen des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik realisierten, interdisziplinär ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben (»Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft«) zuzuordnen, das auch für die späteren Arbeiten Webers Gültigkeit hat. Dies gilt insbesondere auch für Webers Konzept einer Verstehenden Soziologie (1913), die Konzeptualisierung des idealtypischen Vorgehens sowie für seinen Umgang mit der sozialphilosophisch zentralen Werturteilsfrage (1917).
1.3.4 Religionssoziologische Arbeiten
Webers Schriften zur Religionssoziologie behandeln aus einer historischen Forschungsperspektive die Frage nach den Ursachen, Erscheinungen und Auswirkungen des Kapitalismus und entfalten diese zugleich in typologisierender Absicht. In diesem Zusammenhang ist die unter dem Titel Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus zwischen 1904 und 1905 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlichte Artikelreihe anzuführen. Ihr stellt Weber 1906 den Aufsatz Kirchen [26]und Sekten ergänzend zur Seite; er wird später in erweiterter Fassung unter dem Titel Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus veröffentlicht.
Ein wesentlicher Ausgangspunkt dieser Arbeiten ist die sozialwissenschaftliche Beobachtung, dass in der wirtschaftlichen Welt Menschen protestantischen Glaubens überproportional vertreten sind. Weber nimmt ferner Bezug auf zeitgenössische Diskussionen, in denen als Ursache für die Entstehung des neuzeitlichen Kapitalismus die wechselseitige Einflussnahme religiöser und ökonomischer Faktoren herausgestellt wird. Wichtig ist auch Werner Sombarts 1902 erschienene Studie Der moderne Kapitalismus, in der dieser die Bedeutung von Calvinismus und Quäkertum für die Entstehung des Kapitalismus betont.
Weber