Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm

Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung - Margrit Stamm


Скачать книгу
Starting Strong II von 2006, der von einem einheitlichen Vorschulraum ausgeht, in dem Betreuungs- und Bildungsfunktion miteinander verzahnt sind. Trotz solcher Forderungen ist der Gedanke einer «Bildung von Anfang an» in allen deutschsprachigen Ländern noch nicht selbstverständlich. Spezifisch für die Schweiz liegt die große Herausforderung darin, dass die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) sowie die Sozial- und Gesundheitsdirektoren (SODK) die Aufgliederung der beiden Bereiche festgeschrieben haben: So soll die SODK zukünftig die Zuständigkeiten für den Frühbereich (null bis vier, fünf Jahre), der traditionell betreuende, sozial-karitative Züge trägt, übernehmen und die EDK die Verantwortung für die obligatorische Schule, die den Bildungsauftrag schlechthin verkörpert.

      Diese Publikation verfolgt zwei Anliegen: Erstens will sie eine umfassende und interdisziplinäre Synthese von Theorie, Forschung und Praxis für die Ausbildung von Studierenden im FBBE-Bereich liefern. Da dieser Bereich im deutschsprachigen Europa erst seit relativ kurzer Zeit beforscht wird und wir zu großen Teilen auf die Erfahrungen anderer Länder angewiesen sind, stützt sich die Publikation auch auf angloamerikanische Erkenntnisse. Grundlage bilden jedoch die deutschsprachigen Forschungsbefunde und die in den letzten Jahren publizierte Fachliteratur (beispielsweise Fried & Roux, 2006; Thole et al., 2008; Stamm & Edelmann, 2010). Zweitens möchte die Publikation einen Beitrag zur Entideologisierung der aktuellen bildungspolitischen Diskussion liefern. Deshalb versucht sie Brücken zwischen Forschung und Praxis zu bauen und wissenschaftliche Befunde in verständliches Praxiswissen zu transferieren. Damit bekommt die Leserschaft ein Instrument in die Hand, das ihr nicht nur Wissen vermittelt, sondern sie auch anregt, sich mit den aktuellen und den zu erwartenden Diskursen auseinanderzusetzen und sich dabei ein eigenes Urteil zu bilden. Dieses Ziel ist jedoch eine große Herausforderung, sind doch viele Ergebnisse der frühkindlichen Bildungsforschung keineswegs so klar, wie sie allenthalben dargestellt werden.

      Die Publikation, welche vier Schwerpunkte und 13 Kapitel umfasst, richtet sich an alle, die im FBBE-Bereich tätig sind oder planen, in ihm tätig zu werden: an Studierende an Fachhochschulen, Universitäten und höheren Fachschulen, an frühpädagogisches Fachpersonal, an Eltern und an bildungs- und sozialpolitisch Tätige sowie an interessierte Laien. Der erste Schwerpunkt behandelt in den Kapiteln 1 bis 5 die Grundlagen. Dabei geht es sowohl um die Begrifflichkeiten als auch um eine internationale Bestandsaufnahme und um die drei fundamentalen Themen der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung zwischen null und sechs Jahren, um individuelle und kulturelle Unterschiede zwischen den Kindern sowie um die Familie, ihre Rolle und die Bedeutung der familienexternen Kinderbetreuung. Der zweite Schwerpunkt widmet sich den Vorschulangeboten und ihrer Qualität. Im Mittelpunkt stehen das Was und Wie der FBBE, deren Qualität und Standards sowie die Professionalität des Personals (Kapitel 6 bis 8). Der dritte Schwerpunkt fragt nach der Wirksamkeit von FBBE. Untersucht werden ihre Auswirkungen auf den Schulerfolg und die Frage nach ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen (Kapitel 9 und 10). Im vierten Schwerpunkt werden die wichtigsten aktuellen Diskurse unter die Lupe genommen: die Dichotomie zwischen Bildung und Betreuung, die Auseinandersetzung mit der Frage, ob frühere und intensivere FBBE-Maßnahmen in jedem Fall besser sind, sowie die Diskussionen um die frühere Einschulung (Kapitel 11, 12 und 13).

      |16◄ ►17|

      Schwerpunkt I

      Grundlagen

      |17◄ ►18|

      |18◄ ►19|

      1 FBBE: Was sie meint und was sie leisten soll

      1.1 Was ist FBBE?

      Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, Betreuung und Erziehung – von Geburt an. Die UN-Kinderrechtskonvention, welche dieses Bildungsrecht explizit festhält, fußt auf dem Grundgedanken, dass alle Rechte in erster Linie auf das Wohl des Kindes abzielen sollen. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse des Kindes und nicht die Bedürfnisse der Eltern respektive der Erziehungsverantwortlichen im Mittelpunkt stehen müssen. FBBE muss deshalb im Hier und Jetzt gedacht werden. Nicht zufällig hat Janusz Korczak vom «Recht des Kindes auf den heutigen Tag» (Korczak, 1981, S.64) gesprochen. Gerade weil Kinder unsere Zukunft sind, müssen wir sie vom ersten Tag an, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, so fördern, dass sie sich kreativ und ihrem Potenzial entsprechend entwickeln können. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich das humboldtsche Bildungsverständnis des Kindes als «Aneignung von Welt» oder als Selbstbildung (Schäfer, 2004). In dieser Tradition ist Bildung von der subjektiven Eigenleistung abhängig. Sie ist es, die einen Lernprozess zu einem Bildungsprozess macht. Diese Sichtweise bekommt nun auch durch die Befunde der Hirnforschung, der Entwicklungsneurologie und der Systemtheorie Auftrieb.

      Humboldts Grundgedanken bilden bis heute die regulative Grundidee des Bildungsbegriffs. Sie versteht Bildung als Verhältnis zwischen dem individuellen Ich und der Welt, wobei die Individualität nur durch das Gegenüber, durch das sie sich konturieren kann, entsteht. Die Bildung der Kräfte zu einem Ganzen kann dabei nur gelingen, wenn das junge Kind nicht mit funktionalen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft gedacht wird. Für die Diskussion grundlegend ist auch Fröbels, Montessoris oder Piagets Verständnis der frühen Kindheit. Fröbel (1839/1982) spricht von der frühen Kindheit als früher Bildungszeit und vom selbsttätigen Handeln des Kindes im Rahmen seines Bildungsprozesses. Diesen Gedanken hat Montessori (Helming, 2002) weitergedacht und hat auf der Basis von Beobachtungen autodidaktisches, auf Sinneserfahrung basierendes Material entwickelt, das Kinder selbstständig nutzen können. Auf diese Weise können sie ein Verständnis der Welt entwickeln. Die Unterstützung der Erwachsenen im kindlichen Bildungsprozess versteht Montessori dabei als Hilfe zur Selbsthilfe. Von besonderem Interesse für die frühkindliche Bildung ist dabei, dass sie in den ersten zwei bis drei Lebensjahren von einem inflationären Reichtum kindlicher Eindrücke ausgeht, der erst durch die Führung der Erwachsenen in eine Ordnung gebracht werden kann. Diese Ordnung wird jedoch nicht durch die Persönlichkeit der erziehenden Person hergestellt, sondern durch die Sache selbst. |19◄ ►20| Piagets (1981) Kernaussage wiederum besagt, dass die kognitive Entwicklung einem selbstkonstruktiven Prozess entspricht, in welchem das Kind auf der Basis seiner kognitiven Fähigkeiten Wissen konstruiert. Erwachsene spielen dabei eine lediglich sekundäre Rolle.

      Zwar sind sowohl Humboldt als auch Fröbel, Montessori oder Piaget für die aktuelle frühkindliche Bildungsdiskussion von großer Bedeutung. Sie alle berücksichtigen soziale Prozesse – jedoch nur insoweit, als Erwachsene die Eigenständigkeit des Kindes akzeptieren müssen. Diese Perspektive genügt allerdings kaum. Wenn Pluralität ein konstitutives Element unserer Gesellschaft und Diversität eine soziale Tatsache darstellt, dann kann es kaum universelle Gesetzmäßigkeiten – so wie von Piaget postuliert – geben. Frühkindliche Bildung muss vielmehr als sozialer und kulturell bestimmter Prozess verstanden werden, an dem das gesamte gesellschaftliche Umfeld beteiligt ist. Bildungskonzepte müssen deshalb auf den Kontext und auf die Tatsache ausgerichtet werden, dass jedes Kind anders ist.

      Darauf verweisen auch verschiedene empirische Befunde zur vorschulischen Förderung. Seit der internationalen PISA-Studie wird sie verstärkt im Hinblick auf ihre Fähigkeit, Startchancengleichheit bei Schuleintritt zu erreichen, diskutiert. Bekanntlich liegen verschiedene Untersuchungen vor, welche auf die großen Kompetenzunterschiede von Vorschulkindern bereits bei Eintritt in den Kindergarten (Stamm, 2004) und auf die Schwierigkeiten verweisen, diese Unterschiede bis zum Schuleintritt zu egalisieren (Moser et al., 2008). Deshalb besteht heute in der scientific community weitgehend Einigkeit, dass eine langfristig wirksame Förderung früher einsetzen muss. Wenn somit frühkindliche Bildung einen Beitrag zur Minimierung der sozialen Differenz respektive zur Umsetzung von Startchancengleichheit leisten soll, dann greift das humboldtsche Verständnis, aber auch Fröbels und Montessoris Ideen frühkindlicher Bildung als Selbstbildung zu kurz, weil sie keine Aussagen zur soziokulturellen Diversität und sozialen Komplexität machen.

      Wie jedoch soll der frühkindliche Bildungsbegriff weiterentwickelt werden? Einen ersten Vorschlag formuliert Fthenakis, indem er ihn als «ko-konstruktiven Bildungsprozess» (2002) bezeichnet. Dabei spricht er vom kompetenten Kind, das sich Wissen selbst konstruiert, aus sich heraus lernt, die Welt erkundet und den aktiven Dialog sucht. Dies sind Aktivitäten und Kompetenzen, die im Hinblick auf die sprachliche, soziale und


Скачать книгу