Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm
ein Staat frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung als öffentliches Gut betrachten, sie systematisch ausbauen und qualitativ verbessern soll, ist heute international anerkannt. Doch wie sieht es in der Praxis tatsächlich aus? Ein Blick in die bildungs- und sozialpolitischen Agenden zu den Ausgaben für den Vorschulbereich zeigt beispielsweise, dass die Schweiz aktuell höchstens Mittelmaß ist und dass dies im Wesentlichen auch für Österreich, weniger jedoch für Deutschland, gilt. In Ländern wie England, Frankreich, den USA, Holland oder Skandinavien hat Frühförderung in Bildungs- und Sozialpolitik wie auch in der Forschung Tradition, und auch in Deutschland ist sie in den letzten Jahren zu einem Topthema geworden. Große Firmen wie McKinsey («McKinsey bildet: Frühkindliche Bildung») und Stiftungen wie die Naumann-Stiftung («Frühkindliche Bildung – Grundlage einer zukunftsfähigen Gesellschaft») oder die Bertelsmann-Stiftung («Kinder-früher-fördern»), aber auch deutsche Arbeitgeber verbände («Bessere Bildungschancen durch frühere Förderung») zeigen sowohl in finanzieller als auch in ideeller Hinsicht ein großes Engagement. Auch in der Schweiz engagieren sich Stiftungen zunehmend für die frühkindliche Bildung – beispielsweise im Rahmen der Grundlagenstudie «Frühkindliche Bildung in der Schweiz», die im Auftrag der UNESCO-Kommission durchgeführt worden war (Stamm et al., 2009), währenddem sich Engagements von Betrieben bislang eher in Grenzen halten.
2.1.1 Begrifflichkeiten als Abbilder der unterschiedlichen FBBE-Systeme
Bereits in der Einleitung wurde festgehalten, dass international unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden, wenn von frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung die Rede ist. Tabelle 2.1 präsentiert eine aktuelle Übersicht. Dabei ist zu beachten, dass die Bezeichnungen variieren und oft englischsprachige Begriffe wie childcare, daycare oder early education ohne Übersetzung in die Landessprache in internationalen Untersuchungen zu finden sind. Die Bezeichnungen sprechen sowohl von Bildung und Lernen als auch nur von Betreuung. Zum Beispiel verwendet Österreich noch weitestgehend den Begriff der «Kinderbetreuung». Es sind jedoch Diskussionen im Gang, vermehrt auf frühkindliche Bildung zu setzen (www.bildungsserver.de). |25◄ ►26|
Schweiz | FBBE | |
---|---|---|
Deutschland | FBBE; Bildung und Erziehung in Kindertagesbetreuung, frühkindliche Bildung | |
■ | Krippen, Kindertagespflege etc. (0 – 3 Jahre) | |
■ | Kindergarten mit einem Vorschuljahr (3 – 6 Jahre) | |
Österreich | Kinderbetreuung | |
■ | Kindertagesstätten, Krippen, Tagesmütter (0 – 3 Jahre) | |
■ | Kindergarten (3 – 6 Jahre) | |
Frankreich | L’éducation préscolaire | |
■ | école maternelle (2 – 6 Jahre) | |
■ | cycle des apprentissages premiers (die ersten drei Jahre) | |
■ | cycle des apprentissages fondamentaux (die letzten drei Jahre) | |
Italien | I servizi educativi per la prima infanzia | |
■ | Asili nidi (0 – 3 Jahre) (Kinderkrippen) | |
■ | Scuola dell’infanzia (2 – 6 Jahre) (Vorschule) | |
■ | Scuola materna (3 – 6 Jahre) (Kindergarten) | |
Finnland | Early Childhood Education and Care (in Finnland) | |
■ | Child daycare and early childhood education am Departement für Soziales und Gesundheit (finnische Informationsseiten) | |
■ | Vorschule (Esikoulu/Förskola) (1 – 7 Jahre) | |
Dänemark | Kindertagesbetreuung oder Vor- und Grundschule (Folkeskole) | |
■ | Kinderkrippen (vuggestuer) (0 – 3 Jahre) | |
■ | Kindergarten (børnehaver) (3 – 6/7 Jahre) | |
■ | Kindergartenklasse (børnehaveklasse) (6 Jahre, als Übergang in die Schule) | |
Schweden | Vorschulwesen (förskoleverksamhet) | |
■ | Vorschule (förskola) (0 – 6 Jahre) | |
■ | Familientagesheim (familjedaghem) (für alle Kinder, die weiter weg wohnen von einer förskola oder besondere Bedürfnisse haben) | |
■ | Offene Vorschule (öppen förskola) (optionale Tagespflege für Kinder, deren Eltern nicht berufstätig sind und die Kinder nur teilweise abgeben möchten) | |
■ | Freizeitzentren (fritidshem) (zusätzliche Betreuung, auch für Schulkinder) | |
Großbritannien | Childcare and Pre-School learning (0 – 5 Jahre) | |
■ | Besondere Programme und Einrichtungen: | |
■ | Programme wie Early Excellence Centre und Sure Start (Bildung und Betreuung sowie Unterstützung von Familien) | |
■ | British Association for Early Childhood Education | |
■ | Foundation stage 3 – 5 (Bildungsplan vorschulischer Bereich in Großbritannien) | |
(seit September 2000) |
Tabelle 2.1: Internationale Bestandsaufnahme zu den Begrifflichkeiten
Dass die Diversität der Begrifflichkeiten letztlich ein Abbild der unterschiedlichen FBBE-Systeme darstellt, ist schon in Kapitel 1 angesprochen worden. Grundlage der nachfolgenden Betrachtung bilden die Ergebnisberichte Starting Strong I (2001) und II (2006). Dabei handelt es sich um eine thematische Untersuchung der OECD, die im März 1998 durch den OECD-Bildungsausschuss ins Leben gerufen worden war und an der sich zwölf Länder (Australien, Belgien [flämischer und französischsprachiger |26◄ ►27| Teil], Großbritannien, Dänemark, Finnland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, die Tschechische Republik und die USA) beteiligten. Ziel war es dabei, länderübergreifende Analysen und Informationen über Systeme der Kindertagesbetreuung und der frühkindlichen Bildung in den einzelnen Ländern zu erhalten. In der zweiten Runde im Jahr 2004 nahmen auch Deutschland und Österreich teil, die Schweiz jedoch nicht. Ziel dieser zweiten Studie war es, den beteiligten Staaten Anregungen für die Weiterentwicklung der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu geben und die Erkenntnisse auf internationaler Ebene zu kommunizieren. Im Mittelpunkt der zweiten Studie standen neben dem Ländervergleich Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben sowie Schlüsselelemente für eine erfolgreiche Kindertagesstättenpolitik, Fragen zur Qualitätsentwicklung und Zukunftsaufgaben.
Tabelle 2.2 gibt einen Überblick über die verschiedenen Systeme in ausgewählten OECD-Ländern. Sie macht beispielsweise ersichtlich, dass in Großbritannien der Staat die alleinige Verantwortung für die sozial- und bildungspolitische Strategie trägt, dass in den anderen Ländern auch die Verantwortung der Regionen dazukommt und dass in Schweden die dezentralisierte Organisation bedeutsamer ist als die Verantwortung des Staates. Auch in Bezug auf die strategische Ausrichtung ist Schweden ein Sonderfall. Während in allen anderen dargestellten Ländern eine dichotome Ausrichtung sowohl auf Bildung als auch auf soziale Wohlfahrt praktiziert wird, ordnet Schweden diese der Bildungsperspektive unter. Gleiches gilt für die bedienten Altersgruppen, welche hier von null bis sechs Jahren alle Kinder umfassen, während sie in einigen anderen Ländern zweigeteilt sind (Schweiz, Deutschland, Österreich). Schweden und Großbritannien sind ferner die einzigen der ausgewählten Länder, die das Angebot auch für Neugeborene sichern, während die anderen Länder eine untere Alterslimite von drei Monaten (Frankreich, Italien), sechs Monaten (Dänemark) oder einem Jahr (Finnland) festlegen. Sowohl das Kriterium der Verfügbarkeit als auch das der Finanzierung verdeutlichen die enorme Heterogenität der adressierten