Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Margrit Stamm
Sie postulierte, dass die meisten menschlichen Eigenschaften vorwiegend genetisch determiniert seien und deshalb bereits bei der Geburt festgesetzt seien. Deshalb würde feststehen, dass eine durch Reifungsmechanismen bestimmte Entwicklung in ihrer reinen Form unabhängig von Förderung und Unterricht verlaufe und die Intelligenz eines Menschen nicht verbessert oder modifiziert werden könne. Dementsprechend galt der Kindergarten als Ort, an dem die Kinder betreut werden sollten, damit sie ihre Sozialkompetenz entwickeln konnten. Die Bildung jedoch blieb der Grundschule vorbehalten.
• Grundsätzliche Veränderungen brachten die 1960er-Jahre, in Europa die 1970er-Jahre. Nachdem die Raumfahrtanstrengungen der Sowjetunion die internationale Wettbewerbsfähigkeit der USA auf eine harte Probe gestellt hatten, wurde im Zuge dieses «Sputnikschocks» Bildung und damit die Frage, wie die frühe intellektuelle Entwicklung der Kinder optimal unterstützt werden könnte, zu einem wichtigen Faktor im Wettbewerb des Westens gegen den Osten. In der Folge wurden in den USA und später auch in Europa viele Vorschulinitiativen ergriffen. In den USA hießen sie Head-Start und kompensatorische Erziehung, im deutschsprachigen Raum waren es Programme zur kognitiven Frühförderung, zur Intelligenzentwicklung und zum Frühlesen (Lückert, 1969). Erstmals wurden solche Programme auch wissenschaftlich begleitet.
• Dieser Trend der wissenschaftlichen Fundierung setzte sich mit den Fortschritten in der Entwicklungspsychologie fort, insbesondere in der kognitiven Entwicklungspsychologie Piagets. Allerdings fokussierte diese fast ausschließlich auf kognitive Funktionen, weshalb der umfassende Bildungsgedanke verloren
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ging. Dazu trugen auch die neuen Ansätze von Hunt (Bedeutung der Umweltstimulierung), Bloom (Analysen zur Intelligenzentwicklung), Roth (dynamischer Begabungsbegriff), Bronfenbrenner (Ökologie der menschlichen Entwicklung als Wechselwirkungen) oder Bruner (entdeckendes Lernen durch Umweltstimulierung) bei (vgl. zur Geschichte der Entwicklungspsychologie Montada, 1987, S. 11 ff.).
• In den 1970er- und 1980er-Jahren kehrte die Situation mit dem sogenannten Situationsansatz fast ins Gegenteil. Er gilt bis heute gewissermaßen als «pädagogische Theorie» des Kindergartens. In seinem Mittelpunkt steht das soziale Lernen, dem andere Kompetenzen – wie beispielsweise sprachliche oder mathematische Vorläuferfähigkeiten – lediglich zugeordnet werden. Allerdings wurden viele Modelle entwickelt, sodass man nicht von dem Situationsansatz sprechen kann. Zwischenzeitlich wurde der Situationsansatz mit viel Kritik belegt. Bemängelt wurden vor allem seine Offenheit, die immensen Anforderungen an das Personal, die Missverständlichkeit der Konzepte, welche leicht zu einem Laisser-faire-Stil respektive zu einer Benachteiligung bestimmter Kindergruppen führen könnten, und dass er die Bildungsförderung der Kinder insgesamt vernachlässige (vgl. dazu auch Fried, 2003). Ein im Hinblick auf die FBBE-Thematik besonders gewichtiger Vorwurf ist der, dass der Situationsansatz vom starken, vom von sich aus aktiv mit der Umwelt sich auseinandersetzenden Kind ausgehe und den Gedanken ausblende, dass es Kinder gebe, welche auf Unterstützung und Hilfe angewiesen seien.
• Seit den 1990er-Jahren, vor allem jedoch seit der Jahrhundertwende, konzentriert sich nun auch die deutschsprachige Forschung, vor allem auch im Zuge der Entwicklung der Neurowissenschaften sowie der Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, zunehmend auf die frühe Kindheit und den damit verbundenen Bildungsgedanken. So sind verschiedene Forschungsinitiativen lanciert worden, welche auf die Mulitdimensionalität der frühen Kindheit verweisen. Dazu gehören beispielsweise die im Jahr 2005 begonnene BiKS-3 – 8-Studie («Bildungsprozesse, Kompetenzentwicklung und Selektionsentscheidungen im Vorschulalter») an der Universität Bamberg oder die FRANZ-Studie («Früher an die Bildung – erfolgreicher in die Zukunft ?»), die im Februar 2010 an der Universität Fribourg (Schweiz) gestartet ist.
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2.2.2 Schwerpunkte der aktuellen Forschung
Welche Bildungs- und Betreuungsangebote junge Kinder brauchen und welche Konzepte vorschulische Institutionen ihnen vorlegen sollten – diese Frage ist auch heute nicht gelöst. Trotzdem besteht mehrheitlich Konsens, dass aufgrund unserer diversifizierten Gesellschaft Förderangebote flexibel auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes und auf ihre Kontexte ausgerichtet werden müssen. Die nachfolgend dargestellten Schwerpunkte der aktuellen Forschung zur Pädagogik der frühen Kindheit spiegeln diesen Konsens. Sie fokussieren auf die kulturelle Diversität und ihre Folgen, auf Eltern- und Familienbildungsarbeit und damit verbundene Betreuungsfragen sowie auf die frühere Förderung junger Kinder.
1. Sensitivität gegenüber kulturellen Differenzen und Hinwendung zu Risikogruppen: Das Bewusstsein, allen Kindern einen chancengleichen Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Vorschuleinrichtung zu ermöglichen, ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Als Erstes hat es sich in der Sprachforschung niedergeschlagen. Grundlegend war dabei die in den Sozialwissenschaften verbreitete Annahme, dass Kinder, die nicht so sprechen, handeln und denken, wie dies die Gesellschaft von ihnen erwartet, in der Schule benachteiligt werden. Solche Annahmen haben sich in zahlreichen empirischen Studien bestätigt. Nachdem lange Jahre diese Defizithypothese Bestand hatte, ist in den letzten Jahren ein Wandel zu pluralistischeren Entwicklungsmodellen in Gang gekommen. Daraus haben sich neue Perspektiven ergeben, welche zwischen Kompetenz und Entwicklung unterscheiden und auf unterschiedliche Lebenserfahrungen in den Vorschuljahren hinweisen. In diesem Zusammenhang hat sich auch die empirisch breit abgestützte Erkenntnis etabliert, dass vorschulische Interventionen zur Ausbalancierung von sozialen Benachteiligungen beitragen oder sie gar verhindern können. Erste Interventionsprogramme richten sich auf Kinder mit Sprachproblemen und/oder solche aus benachteiligten familiären Milieus. Ein Teil der Angebote arbeitet ausschließlich mit Kindern, während andere größere Bedeutung auf die Unterstützung der Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungskompetenz der Familie legen. «Mit ausreichenden Deutschkenntnissen in den Kindergarten» ist beispielsweise ein Schweizer Projekt, das im Kanton Basel-Stadt lanciert worden ist. Es zielt darauf ab, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist bzw. die aus sozial benachteiligten oder bildungsfernen Familien stammen, vorschulische Förderung erhalten, damit sie bei Eintritt in den Kindergarten und anschließend in die Schule die gleichen Startchancen haben wie nicht benachteiligte Kinder.
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2. Eltern- und Familienbildungsarbeit und die Frage der Betreuung: Dass das Elternhaus die kindliche Entwicklung maßgebend beeinflusst und alle schulischen und extrafamiliären Interventionen seine Qualität nicht ersetzen können, war zwar bereits eine wesentliche Erkenntnis des Coleman- und des Plowden-Reports (Coleman et al., 1966; Plowden, 1967) und wurde nachfolgend in vielen Untersuchungen bestätigt (Holodynski & Oerter, 2002), doch verstärkte sich das Interesse an Eltern- und Familienbildung erst in den letzten Jahren. Elternbildung gilt heute als eine Form der Familienbildung, die auf die Stärkung der Familie als Erziehungsinstanz ausgerichtet ist und die Eltern darin anleitet, wie sie ein entwicklungsförderndes Sozialisationsumfeld schaffen können. Die Effekte vieler Elternbildungsprogramme sind jedoch recht bescheiden. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass elterliche Erziehungspraktiken schwierig zu verändern sind. Weil Familienwerte in sozioökonomische Kontexte eingebaut sind, verändern sie sich nur, wenn auch bedeutsame Veränderungen in anderen Dimensionen des täglichen Lebens stattfinden. Dazu gehören Veränderungen in Einkommen und Haushalt sowie in der sozialen Referenz auf Gruppenwerte und Verhaltensweisen.
3. Familienergänzende Betreuung: Inwiefern familienergänzende Betreuung dem Kind schadet oder seiner Entwicklung förderlich ist, wird auf der Basis widersprüchlichster Positionen debattiert. Gegner der familienergänzenden Betreuung argumentieren mit Entwicklungsrisiken, Befürworter mit Entwicklungsvorteilen für die Kinder. Von beiden Seiten kaum zur Kenntnis genommen werden jedoch die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wonach das junge Kind in seinen ersten drei Lebensjahren wegen seiner körperlichen und seelischen Verletzlichkeit ganz besonders auf eine schützende und stabile Umgebung angewiesen ist. An die ihm am verlässlichsten zur Verfügung stehenden Personen bindet es sich. Die Stabilität seiner Beziehungen fördert die soziale und kognitive Entwicklung. Verschiedentlich problematisiert die Forschung deshalb hohe zeitliche Anteile von Krippenbetreuung im ersten Lebensjahr.
4. Frühere Förderung: Die aktuelle