Globalisierung. Christoph Scherrer

Globalisierung - Christoph Scherrer


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verschont, z.B. die ca. 16.000 nordhessischen Männer, die der Kasseler Landgraf Friedrich II. als Soldaten an die Engländer im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg „vermietete“, oder die kriminalisierten Armen in England, die nach Australien verschifft wurden. Die freiwillige oder religiös motivierte Auswanderung begann in dieser Phase zahlenmäßig an Bedeutung zu gewinnen.

      In Asien erfolgten die ersten Schritte zur Einflussnahme auch auf das Landesinnere. Die East India Company (EIC) nahm zunächst mittels Steuer- und Zollvorschriften auf die Produktion in Bengalen Einfluss. Im Laufe des 18. Jahrhunderts mutierte die EIC von einer Handelskompanie zu einer Landmacht mit Armee sowie Steuereinnahmen insbesondere|27◄ ►28| in den indischen Besitzungen. 1757 besiegten ihre Söldner indische Fürsten und die EIC übernahm die politische Gewalt in Bengalen. Weitere Landnahmen folgten.

      Die europäische Eroberung der Welt zeitigte ihre Wirkung in Europa. So änderten sich die Ernährungsgewohnheiten nicht nur der Oberschichten, sondern auch der Bauernschaft (z.B. durch die Kartoffel). Die Rückwirkungen erfassten zudem die Geisteswelt. Europäische Aufklärer wie Leibniz und Voltaire interessierten sich u.a. für den chinesischen Konfuzianismus. Wie bereits für die Spanier, waren die auf den Erkundungsfahrten von Pionieren wie James Cook gesammelten Erkenntnisse für den strategischen Ausbau des sich abzeichnenden British Empire bedeutsam.

      Der Industrielle Imperialismus (1858 – 1930)

      Die industrielle Revolution begann in England. Sie beinhaltete die Mechanisierung von Handarbeit durch Maschinen (Spinning Jenny: die erste Spinnmaschine, 1767), die mechanische Energieumwandlung (James Watts Dampfmaschine, 1769) und die damit zusammenhängende massenhafte Verwendung mineralischer Grundstoffe, zunächst von Kohle und Eisen. Obgleich sich die industrielle Revolution rasch auf dem europäischen Kontinent und in den USA ausdehnte, konnte England seine wirtschaftliche Führungsposition bis Ende des 19. Jahrhunderts behaupten. Mitte des 19. Jahrhunderts stellte Großbritannien nur 2 % der Weltbevölkerung, doch über 40 % des Industriepotenzials. Militärisch waren die Mitkonkurrenten jedoch zu stark, um von England direkt beherrscht zu werden.

      Die industrielle Revolution führte nicht nur zu einer Überlegenheit in der Warenproduktion, sondern auch in der Militärtechnik einschließlich der Kommunikationsnetze (erste dauerhafte Kabelverbindung zwischen Europa und Nordamerika 1866). Die asiatischen Länder waren der industriell gefertigten Militärmaschine der Kolonialmächte nicht mehr gewachsen und mussten große Gebietsverluste hinnehmen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch Afrika unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt. Insgesamt führte die industrielle Revolution zu einer stärkeren Beherrschung der nicht-europäischen Welt mit Ausnahme von Japan.

      Inwiefern die Kolonialbesitzungen den industriellen Aufschwung Europas begünstigten, ist in der Literatur umstritten. Während David Landes (2007) unter Bezug auf Max Weber die protestantische Ethik und die Durchsetzung von privaten Eigentumsrechten als zentrale Ursachen für |28◄ ►29| den Beginn der industriellen Revolution in England benennt, führt Karl Marx die Enteignung des Landvolks von Grund und Boden (ursprüngliche Akkumulation) als wichtigen Grund an (Marx 1867). Die Dependenztheoretiker André Gunder Frank (1998) und Immanuel Wallerstein (1986) betonen, auf Marx zurückgreifend, die Bedeutung des durch den Kolonialbesitz bereits erreichten relativen Wohlstands und den Zugang zu Rohstoffquellen und Absatzmärkten.

      Karl Marx zur Herausbildung des „Weltmarktes“: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära.“ (Marx 1867: 779)

      Ebenfalls kontrovers werden die Motive für den Kolonialbesitz diskutiert, wobei sich ein Konsens herausschält, dass sich der Imperialismus aus unterschiedlichen Quellen speiste: Es ging um Rohstoffquellen und Absatzmärkte, um die Schaffung eines Ventils für die mit der Industrialisierung einhergehenden scharfen gesellschaftlichen Konflikte, um die Stärkung des Staats und darum, gegenüber den europäischen Nachbarländern nicht ins Hintertreffen zu geraten. Entscheidend war aber letztlich, dass die industrielle Revolution einen solch nachhaltigen machtpolitischen Vorteil gewährte, dass die Gegenwehr zu gering ausfiel. Dort wo die Gegenwehr und der Wille sowie die Möglichkeiten, die industrielle Revolution nachzuholen, stark genug ausgeprägt waren, konnte die Kolonialisierung vermieden oder überwunden werden. Japan und die USA stehen für diese Strategie. In der Machtlogik des Zeitalters des Imperialismus strebten diese dann selbst nach Kolonialbesitz.

      Trotz Rivalitäten bestand unter den Kolonialmächten zumeist ein Einvernehmen im Umgang mit dem Rest der Welt. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Meistbegünstigungsklausel in den Knebelverträgen mit de jure noch souveränen Staaten wie China. Zugeständnisse, die einer Kolonialmacht gewährt wurden, kamen automatisch allen anderen auch zugute. Dieses Prinzip gilt heute noch bei der Liberalisierung des Handels im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Ein anderes Beispiel der Kooperation unter den Kolonialmächten war die Kongo-Konferenz in Berlin, auf der die europäischen Mächte im Jahr 1885 die Aufteilung Afrikas vereinbarten.

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      Die Macht der Kolonialmächte reichte weit über ihre unmittelbaren Kolonien hinaus. Unter Ausübung oder Androhung von Gewalt konnten den formal souveränen Nationen wie China ungleiche Verträge aufgezwungen werden. Diese beinhalteten das Prinzip der Exterritorialität, was bedeutet, dass die Händler der Kolonialmächte sich nicht der lokalen Gerichtsbarkeit unterstellen mussten. Die Kirchen erhielten die Freiheit zu missionieren. Die Macht der Kolonialmächte speiste sich zudem aus der Kontrolle der Seewege und des Kapitals. Großbritanniens Flotte und ein weltumspannendes Netz an Stützpunkten erlaubte die Kontrolle über die Weltmeere und Handelsströme. Das Frachtgeschäft war fest in der Hand von Unternehmungen aus den Kolonialmächten. Der mittlerweile angehäufte Reichtum war zudem eine wichtige Finanzierungsquelle für den Fernhandel und für die Investitionen in die örtlichen Transportinfrastrukturen. Schuldnern, die nicht zurückzahlen konnten, wurden ebenfalls Knebelverträge aufgezwungen. In einigen Fällen griffen die Gläubiger direkt auf die Steuereinnahmen des verschuldeten Staats zu, z.B. konnten sie 1895 über 14% der Staatseinkünfte des osmanischen Reichs verfügen. Hier sind Parallelen sichtbar zum Verhalten der Gläubigerstaaten seit der Schuldenkrise der Achtzigerjahre (→ Kapitel 7). Wie in heutigen Zeiten verfügten die damaligen Unternehmen über das notwendige Know-how bei der Erschließung von Rohstoffquellen und dem Aufbau einer industriellen Infrastruktur. Dies erleichterte ihnen den Erwerb von Bergbaulizenzen.

      Das Verbot der Sklaverei beendete nicht die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften. Vornehmlich strömte nun die im Prozess der Industrialisierung verarmte Bevölkerung Europas nach Süd- und Nordamerika. Die Missionierung hörte auch im Zeitalter des industriellen Imperialismus nicht auf; zum Katholizismus gesellte sich der Protestantismus.

      Entkolonialisierung

      Aus europäischer Sicht gilt der Erste Weltkrieg ( 1914 – 1918 ) als entscheidender Einschnitt in den Globalisierungsprozess. Handel und Kapitalströme zwischen den verfeindeten Nationen brachen stark ein und die vor dem Krieg geltende Weltwirtschaftsordnung konnte nicht wiederbelebt werden. Die Reiche der Habsburger, Zaren und osmanischen Sultane zerfielen in Einzelstaaten und die Migration in die USA kam weitgehend zum Erliegen. Doch da die Kolonien nicht in die Freiheit entlassen wurden, änderte sich für den Rest der Welt deutlich weniger.

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      Aus Sicht dieser Länder war die Weltwirtschaftskrise ab 1929 eine erste entscheidende Zäsur, zum einen weil die Kolonialmächte ihre Imperien gegeneinander abschotteten, was für exportorientierte Länder ohne Imperien wie die Staaten Lateinamerikas die Wirtschaftskrise drastisch verschärfte. Zum anderen gewährte England mit dem Westminster-Statut von 1931 seinen „weißen“ Siedlungskolonien Unabhängigkeit, was Kanada als erstes Land in Anspruch nahm.

      Die Kolonien mit vornehmlich nicht-europäischer Bevölkerung konnten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zumeist nach langen Widerstandskämpfen und als Folge spezifischer weltpolitischer Konstellationen, befreien. Zuerst waren die bevölkerungsreichen Kolonien in Asien erfolgreich, und zwar Indien und Pakistan (1947), Indonesien (1949) und


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