Geschichte der Türkei. Cengiz Günay
Modernisierung sollte vom Staat und seinen Institutionen ausgehen. Damit versuchte man den Entwicklungsprozess umzukehren. Während in Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Österreich und Preußen die Institutionen, die man sich zum Vorbild nahm, als das Ergebnis eines gesellschaftlichen und kulturellen Prozesses entstanden waren, versuchte man diesen im Reich durch die Übernahme dieser Institutionen auszulösen. Gesellschaftliche und soziale Aspekte spielten in den Überlegungen der Reformer kaum eine Rolle. Das vorrangige Ziel war es, den Staat zu stärken und dadurch zu retten. Die Stärkung der staatlichen Institutionen und Strukturen und später die Reform des Rechtswesens sollten den Übergang von einem lose organisierten mittelalterlichen Reich zu einem modernen Konzept des westfälischen Staates
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mit Territorialitätsprinzip, starken zentralstaatlichen Institutionen, einem absoluten Machtmonopol, Steuerhoheit und voller Souveränität nach innen und nach außen gewährleisten.
Die Auseinandersetzung fand zwischen alten und neuen Eliten statt. Im Zuge der Reformen waren Militär- und Verwaltungsakademien gegründet worden, die die Aufgabe hatten, Kader für ein reformiertes modernes Heereswesen bzw. eine effiziente Verwaltung auszubilden. Es sollten diese neuen Kader sein, die die Modernisierungsbewegung tragen und vorantreiben sollten. Sie verdrängten zusehends die traditionellen militärischen Einheiten und drängten den Einfluss der Geistlichen (ulema) zurück. Die Anpassung an die Moderne erfolgte also zu Ungunsten der traditionellen politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Sie war begleitet von einer schrittweisen Säkularisierung des Systems. Auch der Absolutismus des Sultans wurde zurückgedrängt, stattdessen gewann die reformorientierte Bürokratie an Einfluss.Angesichts eines nun starken und zentralisierten Staates, dem eine heterogene und nur schwach organisierte Gesellschaft gegenüberstand, kam es zur Errichtung der Despotie der hohen Bürokratie.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Modernisierung immer stärker mit Verwestlichung (batılılaşma) gleichgesetzt. Gemeint war damit nicht nur die Übernahme von Technologie und Institutionen, sondern eine zivilisatorische Transformation, die die bewusste Übernahme von Denk- und Lebensweisen, von Mode, Geschmack und Vergnügen sowie von Verhaltenscodes beinhaltete. Diese starke Ausrichtung nach Europa ging einher mit der Abwertung der eigenen Tradition, Kultur und Geschichte, die oftmals aus einem eurozentristischen Blick heraus als „rückständig“ und „primitiv“ empfunden wurden.
Damit setzten sich jene Kräfte unter den Eliten durch, die die Moderne als ein universelles Gut verstanden, das zwar aus der westlichen Zivilisation erwachsen sei, das aber für die gesamte Menschheit Gültigkeit habe und das es deshalb ohne Wenn und Aber zu übernehmen galt. Dieser Ansatz ließ keine „Vielfalt der Moderne“ (Vgl. Eisenstadt, 2008) zu und schloss lokale Ausformungen, die sich von den Konzepten der westlichen Moderne unterschieden, aus. Die westliche Moderne wurde damit zusehends als eine zivilisatorische Entwicklungsebene betrachtet. Um modern
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und damit zivilisiert zu sein galt es demnach so zu sein wie der Westen. Dieses Paradigma leitete den Transformationsprozess.
Mit Mustafa Kemal Atatürk setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine radikale Gruppe innerhalb der Modernisierungsbewegung durch. Die Republik, die sie gründeten, sollte eine Abkehr von der osmanisch-islamischen Tradition bedeuten und einen Neuanfang darstellen. Die kemalistischen Reformen hatten das Ausmaß einer von oben verordneten Kulturrevolution. Es galt die Gesellschaft und Kultur aus der islamisch-orientalischen Tradition herauszulösen und eine neue türkische Nation zu konstruieren, die dem westlichen Kultur- und Zivilisationskreis angehören sollte.
Die kemalistische Kulturrevolution schuf nicht nur das Rahmenwerk für einen staatlichen türkischen Nationalismus, führte zur Adaptierung des gregorianischen Kalenders und zur Einführung des Sonntags als gesetzlicher Feiertag und verfolgte die gesetzliche Gleichstellung von Mann und Frau, sondern sie machte sich auch daran, die Religion zu reformieren. Durch staatliche Hand sollte ein „türkischer“ Islam geschaffen werden, der sich mit dem türkischen Nationalismus und Prinzip des Laizismus, der gesetzlich verankerten Trennung von religiösen und staatlichen Bereichen, vereinbaren ließ. Religion sollte dagegen zur Privatsache des Einzelnen werden. Zwangsläufig musste dieses Projekt zu Spannungen mit autochthonen und islamischen Traditionen führen. Mit dem Übergang zu einem demokratischen Mehrparteiensystem kamen nicht nur diese Spannungen, die sich aus dem autoritär durchgeführten Transformationsprozess ergeben hatten, an die Oberfläche, sondern es brachen auch gesellschaftliche Bruchlinien entlang ethnisch-religiöser und kultureller Unterschiede auf.
Die türkische Demokratiegeschichte ist damit zu einem hohen Teil geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprojekt der Eliten. Dabei war auch die Demokratie lange Zeit ein Elitenprojekt. Die Einführung einer Mehrparteiendemokratie war nicht die Folge diesbezüglicher Forderungen, sondern eine Entscheidung der Eliten. Wieder einmal stand nicht das Wohl der Bevölkerung, sondern das des Staates im Vordergrund. Demokratisierung ging daher auch nicht automatisch mit der Liberalisierung des Systems einher. Das System wurde weiterhin
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durch die Vertreter einer städtischen Elitenkultur dominiert. Die Staatsideologie des Kemalismus setzte der Demokratie die legalen Grenzen. Die Integration der breiteren Bevölkerung in dieses Projekt erfolgte schrittweise und ist durch große Spannungen geprägt. Immer wieder erfolgten aus Angst um die Fortsetzung des Modernisierungsprojektes, aber auch zum Schutz von Privilegien, Interventionen durch die Armee. Seit dem Beginn des Modernisierungsprozesses im 18. Jahrhundert hatte sich die Institution der Armee zu einer Vorkämpferin der Anpassung an die westliche Moderne entwickelt.
Auch wenn es sich um eine von den Staatseliten getragene Bewegung handelt, ist heute die Idee der Modernisierung und des Aufholens gegenüber dem Westen tief in der Seele der Türkei verankert. Das Projekt der Modernisierung hat durch die Demokratisierung zwar an Radikalität eingebüßt, es ist aber heute breiter aufgestellt denn je. Die Ausweitung des Elitenprojektes erfolgte durch die staatliche Bildungspolitik, durch die wirtschaftliche Öffnung, die ein privates Unternehmertum ermöglichte, aber mehr noch durch die Integration der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen in das demokratische System. Insbesondere der reformierte Islamismus und seine Integration in das demokratische System scheinen aus internationaler Perspektive ein Erfolg des türkischen Modernisierungsprojektes zu sein. Der Integrationsprozess verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in das Projekt der türkischen Moderne ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Neben religiös-konservativen Strömungen sind es vor allem Bewegungen, die einen nicht-türkischen ethnischen Nationalismus vertreten, wie z. B. kurdische Gruppierungen, die in einem Dialog mit dem Projekt einer türkischen Moderne stehen und diese herausfordern. Durch diesen Prozess veränderten und verändern sich nicht nur die einzelnen Bewegungen, die nach Integration in das System streben, sondern auch das System verändert sich dadurch wesentlich.
Ausgehend von der Annahme, dass die Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne einen der wichtigsten Vektoren in der neueren Geschichte der Türkei darstellt, bezieht sich die Darstellung auf die Geschichte der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozio-ökonomischen Transformation. Aus historischer Perspektive sollen dabei verschiedene Aspekte der Modernisierung selbst, aber vor allem auch
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die dadurch hervorgerufenen Entwicklungen, Spannungen und Widersprüche, beleuchtet werden. Das Buch geht dabei der Frage nach, wo die Kontinuitäten liegen und wo sich Brüche auftun. Es zeigt Entwicklungslinien und Muster auf, die trotz oder wegen der Modernisierung Bestand haben und das heutige politische und gesellschaftliche Leben prägen. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf dem ausschließlich politischen Bereich, sondern bezieht auch gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Veränderungsprozesse und deren Folgen ein.
Ein Ansinnen war es auch, bewusst die historischen Hintergründe für Themen und Problembereiche, die im aktuellen Diskurs auftauchen, zu beleuchten. Angesichts der Aktualität und des Interesses für Türkei-relevante Themen soll dadurch einer interessierten Leserschaft die Möglichkeit für einen differenzierteren Blick auf das Land, seine Kultur und seine Menschen geboten werden.
Mehr als eine wissenschaftliche Abhandlung der türkischen Geschichte versteht sich das Buch