Sozialraumorientierung 4.0. Группа авторов
sie nicht mehr wollen, jederzeit aus der Zusammenarbeit aussteigen. Im zweiten Fall hat es Konsequenzen zur Folge, auch wenn sie das überhaupt nicht möchten. Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf den ersten Bereich: Orientierung am Willen im Kontext der Freiwilligkeit. Selbstverständlich haben Menschen auch im Zwangskontext einen Willen. Das die Zusammenarbeit begründende Anliegen ist allerdings die Abwendung der Gefährdung, etwa die Sicherung des Kindeswohls, und das unabhängig davon, welchen Willen die Betroffenen, etwa Eltern, Betreuer/innen oder wer auch immer gerade in anderen Angelegenheiten verfolgen. Klar ist, dass die am Willen orientierte Arbeit genau diese Trennschärfe braucht.
Für die am Willen orientierte Zusammenarbeit des Helfersystems mit dem Klient/innensystem ergibt sich daraus folgernd oft ein einleitender Schritt: Die Klärung der Falleinordnung bezogen auf potentielle Gefährdungslagen. Wird Fremd- oder Selbstgefährdung vermutet, ist sie vorhanden oder kann eine Gefährdung ausgeschlossen werden?
Im nächsten Schritt wird das Problem erfasst und gewürdigt. Hier zeigt sich wieder die Haltung: Probleme werden durch eine gute Beobachtung, gutes Zuhören ergründet und eingekreist. Die Fachkraft ist hier in der Rolle eines/einer Prozessbegleiters/Prozessbegleiterin und zu keiner Zeit in der Rolle des/der Experten/Expertin, der/die weiß, was „richtig“ ist und wo der Hase im Pfeffer liegt. Ausgehend von Problemlagen, dem häufigsten Anlass für das Auftreten Sozialer Arbeit1, ist die Willenserkundung im Grunde ein einfacher Perspektivenwechsel vom Problem hin zum Ziel, und zwar in drei Prozessschritten:
1.„Was genau ist das Problem?“ Und: „Habe ich Sie richtig verstanden, dass … Ihr Problem ist?“
2.„Stört Sie dieses Problem so sehr, dass SIE das ändern wollen?“
3.„Wie wäre es dann? Wie wäre es, wenn es geändert wäre? Was wäre dann anders?“
Dieser dreischrittige Prozess der Willenserkundung mündet in der Zielerarbeitung. Er wirkt sehr einfach und ist sehr wirkungsvoll. Manchen Fachkräften scheint der Prozess zu einfach zu sein. Meine Beobachtung ist, dass nicht selten eine etwas zu komplizierte Gesprächsführung angeboten wird, die hier und da im Chaos endet. Einfach ist es, aber nicht leicht!
2.Stolpersteine bei der Willenserkundung
Nun treffen Fachkräfte hin und wieder auf schwierige Fälle, die einen dazu verleiten, aus der Willensorientierung auszusteigen. Doch sind es wirklich die Fälle, die „schwierig“ sind, oder sind es nicht eher komplexe Kontexte und für die Willenserkundung mehr oder weniger herausfordernde Gegebenheiten? Letztere können in der Praxis zu dem Eindruck führen, dass Klient/innen keinen Willen haben. Eine Einschätzung, die oft zu schnell und zu wenig fundiert getroffen wird. Betrachtet man die Vielzahl an herausfordernden Momenten bei der Willenserkundung, findet man wiederkehrend folgende Stolpersteine vor:
•Klient/in steckt in tiefer (generalisierter) Problemtrance: Klient/ innen können nur darüber berichten, was gerade alles schlimm und tragisch ist und finden auf Fragen zum Willen, in Richtung Ziel oder bezogen auf mögliche Lösungen keine Antwort. Festzustellen, sie hätten keinen Willen, wäre zu schnell und ungenau. „Wenn jemand ein Problem erlebt, drückt sich darin für ihn eine oft sehr schlimme Leidenserfahrung aus. Dennoch kann die Aussage aufrechterhalten werden, dass die Probleme von den Problemerlebenden konstruiert werden“ (Schmidt 2004, S. 102). Interventionen in diese Muster haben immer etwas damit zu tun, Unterscheidungen in die als Problem definierte Wirklichkeitskonstruktion einzuführen. Hier müssten die Fachkräfte ihr ganzes handwerkliches Geschick auspacken, kognitive Verzerrungen (Burns 2011, S. 44 ff.), z. B. Generalisierungen (Bandler/Grinder 2011, S. 94 ff.), hinterfragen und auf konkrete und dann auch veränderbare Verhaltensbeschreibungen herunterbrechen.
•Klient/in fehlen Ressourcen: Da ein Veränderungswille, in Abgrenzung zum Wunsch, mit Engagement und Eigeninitiative verbunden ist, braucht es für Willenskraft ein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Fehlt der Zugang zu persönlichen Ressourcen, erlebt sich ein Mensch nicht in der Lage, wirklich wollen zu können. Georg Theunissen spricht, bezogen auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderung, von einer „erlernten Bedürfnislosigkeit“ (Theunissen 2000, S. 39), Martin Seligmann von der „erlernten Hilflosigkeit“ (Seligmann 2016). Damit werden wir in allen Feldern Sozialer Arbeit konfrontiert, und es braucht Zeit und Methodenkompetenz im helfenden System, persönliche, soziale und sozialräumliche Ressourcen, etwa durch ein ressourcenorientiertes/lösungsfokussiertes Interview und in der Sozialraumorientierung gängige Instrumente, wie z. B. Ressourcenkarte, Ressourcencheck, Eco-Mapping oder Netzwerkkarten, zu mobilisieren. (In der Praxis geht das oft über die Möglichkeiten des Leistungsträgers hinaus. Daher sind an dieser Stelle häufig die Leistungserbringer im Boot, die dafür in der Regel deutlich mehr Zeit und Flexibilität aufbringen können.)
•Klient/in hat keine Referenzerfahrung für Lösung/Zielzustand: Die Situation ergibt sich in der Zusammenarbeit mit Menschen in äußerst schwierigen Lebenslagen, gerade, wenn diese seit Jahren, Jahrzehnten oder auch Generationen in dieser oder einer ähnlich misslichen Lage leben. Ist es überhaupt denkbar, dass es eines Tages anders sein könnte? Und wie sieht das dann aus? „If you can dream it – you can do it!“, sagen die Mentaltrainer/innen. Aber was, wenn ich es nicht mal träumen kann? Steve de Shazer und Insoo Kim Berg haben die Wunderfrage vorgestellt (DeShazer/Dolan 2008, S. 70 ff.), die sich hier in bestimmten Fällen platzieren ließe. Andere Fachkräfte machen gute Erfahrung damit, positive Gegenbilder (Biene 2017) als Kontrast zum Problem anzubieten. Aber auch ganz pragmatische Ansätze, Gelegenheiten zu schaffen (Früchtel u. a. 2013, S. 63) oder neue Dinge auszuprobieren, können zu realen Referenzerfahrungen führen, die das Repertoire an Wahlmöglichkeiten erweitern.
•Klient/in empfindet den Willen oder die Zielvorstellung als nicht ökologisch (und verhält sich ambivalent): Ziele und der Weg zur Zielerreichung sind in der Regel mit Risiken und Nebenwirkungen versehen. So könnte ein Mensch mit einer Suchterkrankung zwar einen neuen gesunden Lebensstil leben wollen, müsste aber, um dahin zu kommen, seinen Freundes- und Bekanntenkreis wechseln. Dieser Nebeneffekt kann so gewichtig sein, dass das Ziel nicht mehr ökologisch2 für ihn ist und ihn regelrecht bei der Arbeit am Ziel behindert. Auf manche Helfer/innen wirkt ein Mensch, der nichts dafür macht, der passiv bleibt und nichts umsetzt, willenlos. Häufig werden der mit der Zielerreichung verbundene Aufwand, der Sekundärgewinn durch ein Problem und die Kosten und Konsequenzen einer Zielerreichung (Risiken und Nebenwirkungen) von Fachkräften unterschätzt oder übersehen. Durch eine Überprüfung der Willens- und Zielökologie im Rahmen der Willenserkundung („Wollen Sie das wirklich – auch wenn das für SIE harte Arbeit bedeutet?“) und Zielerarbeitung („Welche Konsequenzen hat es für Sie und andere, wenn Sie Ihr Ziel erreichen?“; „Was verlieren Sie, wenn Sie am Ziel arbeiten?“; „Was verlieren Sie, wenn Sie das Ziel erreichen?“ usw.) kann dies überprüft werden. Keine Veränderung kann jedoch so perfekt geplant werden, dass alles von Anfang an bedacht ist. Daher ist die Überprüfung der Ökologie in aller Regel bei den durchführungsverantwortlichen Organisationen angesiedelt, die diese Friktionen reflektieren und auf den Tisch bringen müssen.
Im Ansatz des Motivational Interviewing findet man hier ebenfalls hilfreiche Anregungen: „Wenn Menschen sich – von außen betrachtet – selbstschädigend, unvernünftig und unmotiviert zeigen, haben sie dafür subjektiv gute Gründe. Das offensichtliche Fehlen von Motivation wird als ‚Feststecken in der Ambivalenz‘ interpretiert. Ambivalenz bedeutet hier, dass aus Sicht des ‚veränderungsunwilligen‘ Patienten gute Gründe für eine Veränderung […] und gute Gründe dagegensprechen. In einem motivationssteigernden Beratungsgespräch würden beide Seiten […] erfragt, gewürdigt und abgewogen.“ (Gehring/Straub 2019, S. 77 ff.). Neben der Arbeit mit dem offensichtlichen Dilemma ließe sich auch eine Erweiterung ins Tri- oder gar Tetralemma (von Kibet/Sparrer 2018, S. 85 ff.) vollziehen. Der Möglichkeitsraum des Entweder-oder wird dann ergänzt durch ein Sowohl-als-auch („Wie wäre es denn, wenn Sie einen gesunden Lebensstil führen und gleichzeitig Freunde haben?“) oder ein Keines-von-beiden. In dieser vierten Position gelingt es, den inneren Konflikt sozusagen in ruhiger Distanz von außen zu sehen, eine Kontexterweiterung, die den Willen hinter dem Willen beleuchten könnte.
•Klient/in