Sozialraumorientierung 4.0. Группа авторов
Demokratien jedoch daran, Soziale Arbeit breitflächig zur Normanpassung in den sich entwickelnden Industriegesellschaften zu instrumentalisieren. Die dunkelsten Kapitel der Professionsgeschichte in Faschismen und Totalitarismen unterschiedlichster Provenienz legen grausames Zeugnis darüber ab.
Nach dem bösen Erwachen infolge von Diktatur und Weltkrieg konnten sich auch die Protagonisten der Sozialarbeit dem Sog des gesellschaftlichen Umbruchs der 1968er-Bewegung nicht entziehen – ja, trugen diesen vielerorts auch innovativ-radikal mit, wenn wir etwa an die Deinstitutionalisierung der 70er Jahre und den ersten Boom der Gemeinwesenarbeit denken.
3.Sozialraumorientierung versus Status quo – wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing
Längst hat jedoch Ende des 20. Jahrhunderts die Soziale Arbeit einen Burgfrieden mit dem neoliberal aktivierenden Workfare-State geschlossen, den ihre Vertreter/innen in Sozialpolitik und Sozialadministration sowie ihre Vertragspartner/innen bei den Trägerinstitutionen nun durch das aufrührerische Konzept der Sozialraumorientierung bedroht sehen. Der SRO gleichzeitig zu unterstellen, dass sie diese Komplizenschaft selbst betreibe, ist Ausdruck einer klassischen „Haltet den Dieb!“-Strategie.
Denn wenn die SRO einen „New Deal“ einfordert, der v. a. die Interessen und den Willen der unmittelbar von Interventionen und Angeboten der Sozialen Arbeit Betroffenen im Fokus hat, macht sie sich hoch verdächtig, diesen Burgfrieden zu stören.
SRO tut dies in zweierlei Hinsicht: Einerseits, indem sie die gewohnte Marktlogik und die Finanzierung der Träger über das Lukrieren ihrer jeweiligen Spezialfälle auf die Vorderbühne zerrt. Andererseits macht dieses Fachkonzept insbesondere durch die Fokussierung auf die im Sozialraum vorhandenen (oder eben aufgrund struktureller Benachteiligung eben nicht vorhandenen) Ressourcen aufmerksam und zwingt – freundlich, aber konsequent – die kommunal sozialpolitisch und -planerisch Verantwortlichen zu einem Offenbarungseid. Hic Rhodos, hic salta, Kommunalpolitik!
Wenn die einzelnen Träger in Sozialraumteams ihre Interessen vor allen Stakeholdern und letztlich auch vor den Nutzer/innen Sozialer Arbeit offenlegen müssen, wird der (grundsätzlich auch nicht unberechtigte, weil vom Willen der Einrichtungsbetreiber getragene) Eigennutzen vor dem Sozialraumnutzen rasch transparent und somit verhandelbar.
Diesen Institutionen und den dort beschäftigten Kolleg/innen die Sorge zu nehmen und deutlich zu machen, dass unter Umständen ihr derzeitiges institutionell-professionelles Produkt in der konkreten Situation oder in absehbarer Zeit nicht mehr nachgefragt wird bzw. – im Sinne eines sozialpolitisch-gesellschaftlichen Fortschritts – glücklicherweise nicht mehr nachgefragt werden muss, gilt es in der Fachöffentlichkeit sowie in den Aus- und Fortbildungsinstitutionen klar zu kommunizieren.
An dieser Stelle sei mir ein mehr als augenfälliges Beispiel gestattet: Hätte die Institution der Tuberkulose-Fürsorge, die im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts die Gesundheitssituation in den Wohnquartieren massiv verbessert hat, dafür sorgen sollen, dass ihre Leistungen auch weiterhin dauerhaft nachgefragt werden? Eine horrende Vorstellung, die letztlich auf Neuinfektionen durch Hintertreibung des eigentlichen Ziels hinausgelaufen wäre! Wenn es jedoch ein – auch klar budgetiertes – Commitment der politisch Verantwortlichen im Sozialraum gibt, die Gesundheit der Menschen über das bewältigte Thema TBC hinaus weiter zu verbessern, ist gesichert, dass die professionelle Erfahrung und das Know-how dieser Institutionen und der darin beschäftigten Fachkräfte für ähnlich gelagerte oder neue Themen nutzbar bleiben (Prävention, Sucht, HIV…).
Die in praktischen Umsetzungskonzepten der Sozialraumorientierung angelegte Strategie, die Anbieter Sozialer Arbeit und die meist behördlichen Auftraggeber in Sozialraumteams auf Augenhöhe an einen Tisch zu bringen und über ein Sozialraumbudget zu finanzieren, zog und zieht vordergründig die Kritik auf sich, hier träfe sich ein abgeschlossener Zirkel und verteile in „quasimafiöser“ Manier die vorhandenen bzw. per politischem Federstrich gedeckelten Mittel.
Dass hier jedoch genau sozialplanerisch das passiert, was pragmatisch Sinn macht, wird außer Acht gelassen: Die Versäulung der Angebotspalette, die in einer Erhaltungs- und Expansionslogik notwendigerweise zu steigenden Fallzahlen in den jeweiligen Spezialeinrichtungen führen muss, wird thematisiert. Das Gerangel „um den Klienten/die Klientin“ wird in kleinräumigen Einheiten besonders deutlich: Ein Klient „beschäftigt“ eine Vielzahl von Institutionen und wird in aufwändigem Schnittstellenmanagement von einer Spezialeinrichtung zur nächsten gereicht. Fallvermeidung bzw. frühzeitige Unterstützung durch fallunspezifische, zielgruppenübergreifende Arbeit ist in diesen Abläufen naturgemäß kein Thema.
Auch das augenfällige Hysteron-Proteron von „Containerisierung“ bzw. einem Einsperren von soziomateriell marginalisierten Gruppen in ihren deprivierten Regionen und Stadtteilen (vgl. Kessl/Otto 2007) durch die Protagonist/innen der SRO erfüllt vollkommen den englischen Begriff für absurd, i. e. „preposterous“, in dessen Etymologie die Verwechslung von „Vorher“ und „Nachher“, von Ursache und Wirkung deutlich wird. Kurzum: Die Mechanismen von Armutsverdrängung und Deprivation waren schon wirksam, ehe die SRO den Finger auf die Wunde legte.
4.Fiat voluntas tua – Dein Wille geschehe?
V. a. das zentrale und oberste Prinzip der SRO („Am Willen des Klienten ansetzen“) erschüttert nach wie vor vielfach das Selbstverständnis der Praktiker/innen.
Die unlautere Verkürzung dieses Prinzips als unkritische Willfährigkeit gegenüber den Wünschen der Nutzer/innen (vgl. Fürst/Hinte 2017, S. 18) verkennt allerdings, dass sich der Wille eines Menschen permanent in seiner jeweiligen Existenz manifestiert. Und zwar je nach den Möglichkeiten, die dem Intellekt des Individuums im jeweils konkreten sozialräumlichen Arrangement, i. e. seiner „Welt“, zugänglich sind, also willkürlich im Sinne Arthur Schopenhauers (vgl. Schopenhauer 1996).
Ja, die Suche der Expert/innen nach diesem unter Wünschen nur scheinbar „verschütteten echten“ Willen der Leistungsberechtigten gestaltet sich nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil er manifest vor den Augen ist, sich aber im gesellschaftlich-normativen Kontext häufig so nicht manifestieren soll.
Folgen wir dem – aus Schopenhauers Preisschrift „Über die Freiheit des Willens“ (Schopenhauer 1986) abgeleiteten – Diktum „Der Mensch kann zwar tun, was er will. Er kann jedoch nicht wollen, was er will“, sind gerade die sozialräumlichen Kontexte aufschlussreich hinsichtlich des individuellen Willens und dessen Objektivation in Reaktion auf die gegebenen Umstände.
Den Phänomenen eigensinniger lebensweltlicher Alltagsvollzüge und der Frage individueller Verantwortung begegnet die Soziale Arbeit in ihren verschiedensten Handlungsfeldern meist leider nach wie vor mit Interventionsprogrammen, deren Anspruch auf genuines User-Involvement und Respekt vor dem sich manifestierenden Willen nur ein Lippenbekenntnis bleibt.
Diese Haltung geißelt bereits der „Philosoph des Willens“ Arthur Schopenhauer als das Wesen von Unrecht eo ipso – i. e. „die Verneinung des fremden Willens zur stärkeren Bejahung des eigenen“ (vgl. Schopenhauer 1986). Ein wohlmeinender sozialarbeiterischer Zugang von „Ich höre Dir als Nutzerin Sozialer Arbeit zwar zu, aber ich weiß schon, was besser für Dich ist“ (vgl. Fürst/Hinte 2017, S.17) kann und muss in diesem Sinne auch als (professions)ethisches Unrecht inkriminiert werden. Die Praxis Sozialer Arbeit oszilliert notwendigerweise zwischen ihren Aufträgen „Normanpassung“ und „Normänderung“. Die damit einhergehende Versuchung der Professionist/ innen ist allemal, die selbstexplorierende Auseinandersetzung des/der Adressaten/Adressatin kommunikativ so zu steuern, ja im schlechtesten Fall zu manipulieren, dass ein latent vorausgesetztes Ziel tendenzieller Normanpassung (das in der eigenen bzw. organisationalen Routine einfacher zu erreichen und zu evaluieren ist als etwa fordernde Normänderungsprozesse im Sinne systemischer Inklusionsförderung) in der Klienten-Sozialarbeiter-Interaktion ein „It goes without saying!“ zu Lasten des Klientenwillens darstellt.
Dort, wo sozialarbeiterische und sozialpädagogische Expert/innenlogik auf die – zwar gerne postulierte – unabdingbare Freiheit des Willens jedes/ jeder einzelnen Nutzers/Nutzerin Sozialer Arbeit prallt, greift das