Sozialraumorientierung 4.0. Группа авторов
Waldvogel, Rosann (2007): Zürichs Soziale Dienste – ein umfassender Change. In: Haller u. a. (2007), S. 140-150
Fußnoten
1 Zahlreiche Schnittmengen sowohl bezüglich Menschenbild und Grundhaltung als auch methodischer Herangehensweisen gibt es zum „Motivational Interview“ (Miller/Rollnick 2015), zur gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg 2016) sowie zur Theorie und zu Techniken der Validation (Feil/de Klerk-Rubin 2017).
2 Ich will nicht verhehlen, dass mich – gerade in letzterem Zusammenhang – manche Publikation der Kollegen Kessl/Reutlinger (s. u.) und May (s. dazu Hinte 2019) zwar nerven, mir jedoch die Hinweise auf einige in diesen Texten vorfindbare intellektuelle Unsauberkeiten oder gedankliche Verwirrungen umso mehr Freude bereiten.
2.Die fünf Prinzipien: Grundlagen, Vertiefungen und Praxisbeispiele
Manfred Tauchner
„Ja, dürfen’s denn das?“ – Die Welt als normierter Wille und sozialräumliches Vorstellungsvermögen
Eine an der Queen’s University in Belfast geführte Fachdiskussion im Juli 2018 gab unmittelbar Anstoß zu diesem Beitrag. Roland Fürst und ich von der Fachhochschule Burgenland1 stellten im Rahmen einer Studienreise das Fachkonzept Sozialraumorientierung (SRO) als Schwerpunkt unseres Studiengangs Soziale Arbeit vor. Den britischen Kolleg/innen eher rudimentär im Sinne Wolfgang Hintes „wehrloser Konzeptvokabel“ (Fürst/Hinte 2017, S. 10) des kontinentaleuropäischen, v. a. deutschsprachigen Diskurses bekannt, stieß eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den grundlegenden fünf Prinzipien und deren Implikationen für die derzeitigen Systeme sozialer Daseinsvor- und Nachsorge auf größtes Interesse der Fachleute aus Praxis und Lehre an der führenden Universität Nordirlands.
Dass die Kritik an der SRO innerhalb der deutschsprachigen Fachwelt Irritationen bis hin zu einem teilweise verschwörungstheoretisch anmutenden Ausmaß annehmen konnte (vgl. Fehren/Kalter 2012) verursachte auf den Gesichtern der Belfaster Kolleg/innen ein erstauntes „Why is that so?“.
Mit einem konsequenten Fokus auf dem Willen der leistungsberechtigten Adressat/innen, einer eindeutigen Präferenz der Aktivierung vor Betreuung, einem permanenten Pendelblick auf Ressourcen, mit zielgruppen- und bereichsübergreifenden Aktivitäten sowie der integrativen Vernetzung der sozialen Dienste und Stakeholder im jeweiligen Fallraum stelle SRO als Konzept ein modernes Verständnis von Sozialer Arbeit dar, was in der angloamerikanischen Tradition mittlerweile „state of the art“ sei, so der britische Tenor. Warum also diese augenfällige Reaktanz innerhalb der deutschsprachigen Fachwelt, die lokale Umsetzungsformen und Modellprojekte dieses Fachkonzepts „aus einem Guss“ (ebd.) in Kommunen und Regionen eher mit Argwohn als Neugier begleitete (vgl. Höllmüller 2014) und das Fachkonzept SRO bisweilen sogar mit einem von expansiver Exportlogik getragenen Krankheitserreger vergleicht (vgl. Schreier/Reutlinger 2013)?
1.Kritik der Kritik aus dem Elfenbeinturm
Eine „Kritik der Kritik“ am Konzept der Sozialraumorientierung erfordert es, die Kanten zu schärfen und aufzuzeigen, dass die gegenüber dem Konzept SRO und dessen konkreter Umsetzung in verschiedenen Kommunen bislang formulierten Besorgnisse eher einem Generalverdacht gleichen.
Ein engführendes Missverstehen zentraler Elemente der SRO wie des „Willens“ und ein Anspruch von theoretischer Deutungshoheit zum Begriff „Sozialer Raum“ münden in vordergründigen Argumenten: SRO diene sich als Komplizin neoliberaler Workfare-Methoden der Individualisierung, Responsibilisierung und Aktivierung an und betreibe – naiv oder als „hidden agenda“, da sind sich die Expert/innen im Elfenbeinturm nicht ganz einig – die Kürzung von Sozialbudgets, sie habe das politische Mandat im Sinne kritischer Sozialarbeit stillschweigend entsorgt (vgl. Bettinger 2012; Diebäcker 2008; Kessl/Reutlinger 2010; Otto/Ziegler 2008).
Zugegeben, auch meine erste Reaktion als Praktiker (2006) in der Sozialen Arbeit mit Straffälligen auf die fundamentale Infragestellung des aktuellen Gepräges der Sozialarbeit und Sozialpädagogik durch die Sozialraumorientierung war vor vielen Jahren ein kritisches „Woher nimmt sich dieses Konzept das Recht, die Verhältnisse neu zu deuten und zu gestalten?“.
Tatsächlich ist diese Reaktanz schon selbstreferenziell; zeugt die massive Skepsis doch davon, dass die Erschütterung, die das Konzept der SRO v. a. für das nur vermeintlich geltende, gemeinsame Verständnis von Fachlichkeit in der Sozialen Arbeit darstellt, tiefgeht, tatsächlich – im Sinne von an die Wurzel gehend – radikal ist und so die Frage aufwirft: Was will die Soziale Arbeit im Europa des 21. Jahrhunderts? Wenn der SRO en passant Beliebigkeit und Konturlosigkeit vorgeworfen wird (Schreier/Reutlinger 2013), drückt sich hier etwa die eigene professionelle Verunsicherung einer Profession auf tönernen Füßen aus? Im Gefolge dieser Debatte spitzt sich offensichtlich eine Ex-Kathedra-Diskussion zu: Was dürfen die Adressat/innen und die Profis wollen?
Die Antwort darauf ist vielschichtig, weil sie viele gewohnte Annahmen vom Kopf auf die Beine stellen muss. Die Ursachen liegen dabei m. E. auch in den nach wie vor wirksamen Entwicklungslinien Sozialer Arbeit in deutschsprachigen Ländern theokratischer Prägung und monarchisch-obrigkeitsstaatlicher Tradition sowie deren Tendenz, einen an konkreten Lösungen orientierten Pragmatismus dem Moloch einer nur scheinbar verallgemeinerbaren, theoretischen Begründbarkeit des Handelns zu opfern.
Der Unterschied in der historischen Entwicklung ähnelt dem im angloamerikanischen Raum prominenten „Case Law“ zum kontinentaleuropäisch materiell-rechtlichen Zugang zur Rechtsprechung und Fortschreibung, indem auf die Komplexität des jeweiligen Sachverhalts nicht in erster Linie ein formalistischer Katalog angelegt wird, sondern die Form dem Inhalt folgt und pragmatisch-evolutionär passgenaue Lösungen weiterentwickelt werden.
An den fachlichen Verwerfungen rund um den Respekt vor dem Willen der Adressat/innen Sozialer Arbeit zeigt sich eine Starrheit Sozialer Arbeit in behördlich-obrigkeitsstaatlicher Tradition („Europäische Schule“) im Vergleich zu einer adaptiv-flexiblen Provenienz („Angloamerikanische Schule“). Die „Titanic“-Sozialarbeit, die sich in erster Linie als Teil staatlicher Hoheitsverwaltung versteht und als solche dem Eigenwillen der Nutzer/innen prinzipiell eher argwöhnisch begegnet, bewegt sich auf Kollisionskurs mit dem „Eisberg“ der Sozialraumorientierung.
Diesem traditionellen Diskurs auf dem falschen Dampfer stellt sich SRO ja in den Weg als Ausdruck eines theoretisch breit fundierten, jedoch unprätentiösen, „polytheistischen“ Pragmatismus, wie er von Ludwig Marcuse (1994) beschrieben wird und von dessen streitbarem Geist auch die angloamerikanische Sozialarbeit durchdrungen ist.
2.Historischer Exkurs: Bürokratischer Paternalismus und der Versuch einer Normierung des Willens
Das Establishment der Sozialen Arbeit teilt also gegenüber der SRO und ihren Implikationen das Erstaunen Ferdinand des Gütigen (1793-1875) angesichts der revoltierenden Arbeiterschaft in Wien 1848: „Ja, dürfen‘s denn das?“, meinte der österreichische Kaiser naiv, als die Arbeiter/innen auf die Barrikaden stiegen. Sie dürfen nicht nur – sie wollen und tun.
Als im 18. Jahrhundert das politische Konstrukt einer „volonté générale“ – eines fiktiv allgemeinen Willens, der den Willen Einzelner bzw. sozialräumlicher Gruppen ex lege normieren soll und darf – seinen Siegeszug antrat, baute sich in dessen Schlagschatten eine Bürokratie auf, die sowohl dem Monarchen als auch dem – im noch unerfahrenen Parlamentarismus sich entwickelnder Demokratien – mächtigen Staat die Umsetzung der vorherrschenden Interessen ermöglichte. Soziale Arbeit entwickelte sich in und an den Bruchlinien dieser höchst divergenten und machtungleichen Interessen. Ihre Pionier/innen griffen insbesondere Gesundheit und soziale Absicherung der arbeitenden Bevölkerung „bottom up“ auf.
So waren es der notwendigerweise in manchen Phasen auch auf die „Straßen getragene“ manifeste Wille und die Wirkmacht der Betroffenen, die Normentwicklung und