Europäische Regionalgeschichte. Martin Knoll
20. Jahrhunderts in den alpinen Regionen Österreichs ausgelöst hat, der oder die tut gut daran, den gesellschaftlichen Energiekonsum und Ressourcenbedarf des vorfossilen Zeitalters oder den modernen Tourismus als historische Phänomene und Probleme von gesamteuropäischer Dimension zu erkennen. Auf dieser Erkenntnis kann eine Regionalgeschichtsschreibung aufbauen, die die Methode des Vergleichs mit anderen Regionen nutzbar macht, um die Befunde einer Region besser einordnen zu können. Es kann aber auch eine Geschichtsschreibung angeleitet werden, die den vielfältigen Verflechtungen und Transfers zwischen Regionen – seien sie politischer, demografischer, kultureller, ökonomischer oder sozialökologischer Natur – nachspürt und damit einem Geschichtsbild entgegenwirkt, das Regionen als statische, von ihrer Umgebung scharf abgegrenzte und gleichsam autark existierende Entitäten konzipiert.
Was will dieses Buch?
Dieses Studienbuch will in einem ersten Schritt grundlegende Begriffe und Konzepte klären, allen voran den Regionsbegriff selbst. In einem semantisch sehr weiten, oft positiv konnotierten Alltagsverständnis ist das Begriffspaar „Region“ / „regional“ allgegenwärtig. Gerade weil jede und jeder glaubt, diese Begriffe klar verorten zu können, ist besondere Aufmerksamkeit erforderlich – sowohl im Hinblick auf die historische Entwicklung der Begriffsbedeutung als auch auf den Regionsbegriff als Kategorie der Geschichtswissenschaft.
In einem zweiten Schritt gilt es dann kurz das Verhältnis zwischen Regionalgeschichte und Landesgeschichte zu diskutieren. Landesgeschichte als historische Teildisziplin stellt eine Besonderheit der geschichtswissenschaftlichen Forschungslandschaft im deutschsprachigen Raum dar. Was sie von der Regionalgeschichte unterscheidet und was sie mit dieser verbindet, das soll resümierend erörtert werden, ohne dass es hier sinnvoll wäre, alle Argumentationsstränge einer jahrzehntealten Fachdiskussion bis ins Detail nachzuverfolgen. Am Ende wird der Einschätzung des Münchener Landeshistorikers Ferdinand Kramer zuzustimmen sein, wonach sich die wissenschaftliche Debatte um Landesgeschichte und Regionalgeschichte weitgehend erschöpft habe und sich die beiden Ansätze in der Forschungspraxis kaum mehr voneinander trennen lassen (Kramer 2015, 213).
Im weiteren Programm dieser Einführung geht es um die Erschließung des historischen Gegenstandes und die verschiedenen Herangehensweisen der Regionalgeschichte an diesen. Der hierfür gewählte Weg führt über die Vorstellung verschiedener teildisziplinär geprägter Perspektiven in der Regionalgeschichte. Den eigentlichen Kern dieser Einführung bildet daher eine Reihe von Unterkapiteln, die dem Schema „Regionalgeschichte als …“ (z. B. Regionalgeschichte als Politikgeschichte oder als Wirtschafts- und Sozialgeschichte) folgen. Dafür wurden folgende Perspektiven ausgewählt: Politikgeschichte, Mikrogeschichte, Globale und Transterritoriale Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Umweltgeschichte, Stadtgeschichte, Religions- und Konfessionsgeschichte, Tourismusgeschichte, Migrationsgeschichte, Geschichte von Einzel- und Gruppenbiografien, Geschlechtergeschichte sowie die Regionalgeschichte im schulischen Kontext.
Dabei ist klar, dass diese Auswahl erstens nicht zwingend ist und die Breite der Regionalgeschichte nicht erschöpfend abbildet und es zweitens „Sortenreinheit“ dieser Blickwinkel in der regionalhistorischen Praxis oft nicht geben kann. Sinnvoll erscheint dieses Vorgehen trotzdem, arbeitet es doch zugespitzt heraus, welche historiografischen Herangehensweisen an Regionalgeschichte möglich und in der Praxis vorherrschend sind. Dabei muss auch ausgelotet werden, welchen offenen Fragen und ungelösten Problemen die Regionalgeschichte gegenübersteht.
Zum Wissenschaftsbetrieb gehört auch die Institutionalisierung. Eine kleine Bestandsaufnahme geht daher der Frage nach, wo und in welcher Form Regionalgeschichte im deutschsprachigen Raum an Universitäten und in universitären Curricula sowie in außeruniversitären Forschungseinrichtungen verankert ist. Aber auch Ausprägungen der „Geschichte vor Ort“, also die oft von Laien getragenen lokal- und regionalhistorischen Initiativen und Vereine, liefern ein facettenreiches Feld, das nicht außen vor bleiben sollte. Institutionalisierung von Wissenschaft äußert sich auch in der Etablierung und Arbeit von Publikationsorganen wie Zeitschriften, Buchreihen oder Online-Portalen. Und so vermittelt auch die einschlägige Medienlandschaft Eindrücke von den Entwicklungen des Fachs.
1.1 Aktualität und Konjunktur von Region
Der Begriff der Region ist allgegenwärtig. Eine Google-Suche im Frühjahr 2020 erbringt 4,6 Milliarden Treffer.
Der Regionsbegriff: beliebt, aber vieldeutig
In der Medienlandschaft und der Werbewirtschaft fungiert der Regionsbegriff irgendwo zwischen Zugpferd und Allzweckwaffe: Ob regionale Lebensmittel – wie auch immer deren Herkunftsradius im Einzelnen definiert sein mag –, ob touristisches Destinationsmarketing („Nationalparkregion“, „Genussregion“, „Sportregion“) oder regional zugeschnittene Medien: Stets transportiert der Regionsbegriff eine sehr positive Botschaft, ein Versprechen von Vertrautheit, Nähe, Kontrolle und Kohärenz.
Abb. 1 Supermarkt in Oberösterreich – „Wir sind regional“ (Quelle: Eigene Darstellung 2020)
Die Beliebtheit des Begriffs spiegelt freilich seine Polyvalenz wider. Ähnlich anderen „Gummiwörtern“ der öffentlichen Debatte (besonders prominent z. B. der Nachhaltigkeitsbegriff) ist er ungemein offen für eine Vielzahl semantischer Aufladungen bei gleichzeitiger Suggestion eines konsensualen Verständniskerns.
Dabei sind weder der Begriff selbst noch der mit ihm bezeichnete Wirklichkeitsbereich einfach zu fassen. Um ein Alltagsverständnis von „Region“ greifen zu können, lässt sich die deutschsprachige Wikipedia konsultieren. Dabei wird vorneweg zwischen einem geografischen, biologischen und technischen Kontext unterschieden. Im geografischen Kontext finden sich zwei Definitionsangebote, die beide im weiteren Verlauf dieses Buches relevant sind. Region wird hier erstens als Gebiet bezeichnet, „das geographisch, politisch, ökonomisch und/ oder administrativ eine Einheit bildet“. Zweitens wird hier auf die Maßstabsebenen geografischer Betrachtung zwischen den Extremen lokaler, kleinräumiger Bereiche der Erdoberfläche auf der einen und globaler, die gesamte Erde betreffender Interessenahme auf der anderen Seite hingewiesen (Wikipedia, Region, wikipedia.org). In letzterem Gefüge verortet sich Regionalität als grundsätzlich partikulare, je nach Definition aber als supra-nationale („Der globale Süden“) oder sub-nationale („Provinz“) Größe.
Regionalität in der Europäischen Union.
Welche Faktoren machen Regionalität aus? Eine mögliche Sondierung besteht im politischen und administrativen Konzept von Region, das im Kontext der Europäischen Union fassbar wird (Lottes 1992). Das viel beschworene Schlagwort eines „Europa der Regionen“, das freilich mit dem Wiedererstarken nationaler Grenzen seit 2015 viel an seiner Strahlkraft verloren hat, macht eine Suche an dieser Stelle plausibel. Konkret äußert sich der Bezug zwischen Europäischer Union und Region in verschiedenen Politikfeldern, besonders prominent im Feld der Kohäsionspolitik, also dem Zusammenhalt zwischen einzelnen Staaten und Regionen. Hier geht es um ein programmatisches Bestreben nach Stärkung des „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern“ (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Art. 174, Stand 09. 09. 2020). Die Union setzt sich dabei „insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern“ (Ebd.). Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei ländlichen Gebieten, Gebieten im (post-)industriellen Strukturwandel und „Gebieten mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen, wie den nördlichsten Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie den Insel-, Grenz- und Bergregionen“ (Ebd.). Dementsprechend befasst sich die EU-Regionalpolitik mit der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land sowie mit der Entwicklung ländlicher Räume, entwirft aber auch Strategien der Entwicklung makroregionaler Räume wie der Alpen (EU Strategy for the Alpine Region, EUSALP), des Donauraums (EU Strategy for the Danube Region, EUSDR), des Ostseeraumes (EU Strategy for the Baltic Sea Region, EUSBSR; Sea