Europäische Regionalgeschichte. Martin Knoll
wenn es um die zweite von Hinrichs benannte Schicht, die der „geographisch-landeskundlichen“ Zugänge, geht. Die Nähe zur Geografie ist ein Konstituens von Landesgeschichte und Regionalgeschichte. Schließlich ist in der dritten „sozialwissenschaftlich-anthropologischen“ Schicht die für die Regionalgeschichte charakteristische Nähe zu sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen, darunter die der französischen Annales-Schule, zu greifen, genau wie zu jüngeren kulturalistischen Zugängen aus dem Bereich der Neuen Kulturgeschichte, Historischen Anthropologie und Alltagsgeschichte.
Abb. 2 Konstitutionselemente von Landesgeschichte in der Gegenwart (Quelle: Hinrichs 1985, 5)
Landesgeschichte und/ oder Regionalgeschichte
Doch, um auf die zu Beginn des Kapitels zitierten Stimmen zurückzukommen, die die Unterscheidung zwischen Regionalgeschichte und Landesgeschichte in der aktuellen Wissenschaftspraxis für mehr oder minder obsolet halten, stellt sich die Frage, was an Trennendem bleibt, wenn es so viel Verbindendes gibt. Eine Antwort fällt schwer. Vielleicht muss sie offen bleiben. Andreas Rutz (2018) wählt in seinem Forschungsüberblick über landes- und regionalgeschichtliche Forschung in Europa den perspektivischen Kniff, einfach alle Formen regional orientierter Historiografie als „Landesgeschichte“ zu etikettieren. Er propagiert die Europäisierung der Landesgeschichte, ganz ähnlich wie Ferdinand Kramer (2011) dies unter Hinweis auf die Kleinräumigkeit des europäischen Kontinents tut. Kramer leitet das Potenzial der Landesgeschichte aus der historiografischen Bearbeitung der regionalen Dimension europäischer Geschichte ab. Und die Unterschiede? Die epochal starke Konzentration der landesgeschichtlichen Forschung auf das Mittelalter ist – wie bereits erwähnt – aufgebrochen. Mit der Öffnung zur neuzeitlichen Geschichte hat Landesgeschichte gerade in den föderal verfassten Staaten der Bundesrepublik Deutschland und der Zweiten Österreichischen Republik an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen, weil sie das Bedürfnis nach „Bundeslandgeschichte(n)“ bedient. Die Schweizergeschichte wird, offensichtlich aufgrund des kleinräumig strukturierten und kantonal organisierten Föderalismus der Schweiz, weniger als Landes- denn als Regionalgeschichte verstanden und betrieben (Sonderegger 2011). Walter Rummel (2015) sieht nach wie vor markante Unterschiede zwischen Landes- und Regionalgeschichte und er kritisiert sogar, dass diese „leider durch die bisweilen nicht mehr beachtete, begriffsgeschichtliche korrekte Verwendung der Begriffe verwischt werden“ (Ebd., 31). Zum Kern verbliebener Unterschiede führt er aus:
So geht die Landesgeschichte in der Regel von einem administrativ vorgegebenen Raum aus, selbst wenn dieser nicht mehr existiert […]. Im Vordergrund darauf bezogener Forschungen stehen historische Verhältnisse, Entwicklungen, Erscheinungen, Personen und Ereignisse, die stark vom administrativen Gefüge des Raumes geprägt sind oder es zu sein scheinen und die ihrerseits in die Räume zurückwirkten. Für die Regionalgeschichte hingegen erschließt sich der Raum nicht durch Grenzen, sondern erst durch eine auf Prozesse und Strukturen bezogene Fragestellung. So betrachtet ist der Raum sekundär und konkret erst ein Ergebnis der Forschungen. Es sind daher jeweilige sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Prozesse und Strukturen, die jeweilige Räume überhaupt erst ausprägten (Ebd.).
Dieses Zitat erinnert an jenes vom Kapitelbeginn. Das ist kein Zufall, denn im Kern adressiert es eben denselben Unterschied zwischen beiden Perspektiven, den auch bereits Ernst Hanisch ansprach.
Europäische Regionalgesichte
Verkompliziert wird die Verortung der Regionalgeschichte noch durch das Adjektiv „europäisch“, das in jüngerer Zeit die regionalgeschichtliche Denomination zu dem erweitert hat, was auch in dieser Einführung vertreten wird: eine am europäischen Problemhorizont orientierte, vergleichende historische Regionalforschung. Dass der europäische Horizont großes analytisches Potenzial für regionalhistorische Forschung besitzt, wird sich in zahlreichen Beispielen der Folgekapitel zeigen. Zum innovativen Charakter der Regionalgeschichte erscheint freilich noch ein relativierender Hinweis aus der Feder des Regionalhistorikers Miloš Řezník erwähnenswert. Er hält den Umstand, dass in den 1990er-Jahren Regionalgeschichte oft mit damals innovativen Zugängen wie Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte identifiziert wurde, für ein Missverständnis. Denn die Anwendung alltags- oder mikrogeschichtlicher, historisch-anthropologischer oder historisch-demografischer Zugänge sei zwar meist, forschungspragmatischen Motiven folgend, im Rahmen von Regionalstudien angewandt worden, jedoch:
Soweit unter der Regionalgeschichte die Geschichte von konkreten Regionen verstanden wird, bleibt der regionalhistorische Wert dieser allgemeinhistorischen Forschungen im Grunde ein – gleichwohl bedeutendes – Nebenprodukt (Řezník 2019, 29–30).
Nebenprodukt oder nicht – die Offenheit der Regionalgeschichte für diverse historiografische Zugänge der Allgemeingeschichte gehört zu ihren großen Potenzialen. Diese Offenheit wird in Kapitel 3 anhand verschiedener Beispiele ausgelotet.
Drei Zugänge zur Regionalgeschichte
Für den Moment soll es nun genügen, eine annäherungsweise Definition dessen zu versuchen, was eine regionalhistorische Perspektive ausmacht. Stephen Jacobson et al. haben hierzu eine dreigliedrige Unterscheidung vorgeschlagen. Im Feld regional orientierter Geschichtsschreibung lassen sich demnach drei unterschiedliche Methodologien unterscheiden: erstens ein materialistischer, zweitens ein konstruktivistischer und drittens ein juridisch-institutioneller Ansatz (Jacobson et al. 2011, 15–16). Der materialistische Ansatz setzt im Gefolge der regionalhistorischen Agenda der französischen Annales-Schule in Regionalstudien die historische Entwicklung mensch licher Gesellschaften in Beziehung zu ihrer materiellen Umwelt. Dieser Weg sei – trotz der Konzentration vieler Werke der früheren Annales-Schule auf die Vormoderne – auch einflussreich für wirtschafts- und sozialhistorische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, z. B. für die Untersuchung regionaler Muster der industriellen Entwicklung und Unterentwicklung. Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte stehen in einem Naheverhältnis zueinander.
Ein zweiter, konstruktivistischer Zugang richtet seine Aufmerksamkeit auf die Konstruktion ethnischer, religiöser und nationaler Identitäten. Das Verhältnis zwischen den Entwicklungen regionaler und nationaler Identitäten steht hier ebenso zur Debatte wie regionale Erinnerungskulturen und z. B. die Erfindung von Traditionen (Hobsbawm & Ranger 1983; Küster 2002).
Im Rahmen eines dritten, juridisch-institutionellen Ansatzes findet das Adjektiv „juridisch“ auf private, öffentliche, zivil- und kirchenrechtliche Rechtsordnungen Anwendung. Die Kategorie des Institutionellen wird hier auf politische und kirchliche Körperschaften angewendet. Beide waren in der Geschichte Europas wichtige Akteure der politischen Definition von Regionalität: Die italienischen Stadtrepubliken, die Fürstbistümer des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, die mehreren hundert geistlichen und weltlichen Träger von Grund- oder Landesherrschaft sind – auch – notwendiger Bezugspunkt regionalhistorischer Forschung.
Literaturtipps
Ellis, S. G. & Michailidis, I. (Hg.). (2011). Regional and Transnational History in Europe. Cliohworld readers: Bd. 8. PLUS-Pisa University Press.
Freitag, W., Kißener, M., Reinle, C. & Ullmann, S. (Hg.). (2018). Handbuch Landesgeschichte. De Gruyter Oldenbourg.
Hinrichs, E. (1985). Zum gegenwärtigen Standort der Landesgeschichte. Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte: Neue Folge der „Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen“, 57, 1–18.
Hirbodian, S., Jörg, C. & Klapp, S. (Hg.). (2015). Methoden und Wege der Landesgeschichte. Landesgeschichte: Bd. 1. Jan Thorbecke Verlag.
1Anm.: Die Lebensdaten bereits verstorbener Personen werden bei der erstmaligen Nennung in Klammern angeführt.
2. Region als Konzept und historischer Gegenstand
In der aktuellsten historischen Literatur fehlt es nicht an Beispielen eines ratlosen Umgangs mit der Regionskategorie, der sich oft