Europäische Regionalgeschichte. Martin Knoll

Europäische Regionalgeschichte - Martin Knoll


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ist offensichtlich. Der Geograf Anssi Paasi sieht diese Konstruktion im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und Machtgefügen. Regionale Identität als regionales Bewusstsein von Menschen, die innerhalb oder außerhalb einer Region leben, wird Paasi zufolge in einem dialektischen gesellschaftlichen Prozess von einer Vielzahl beteiligter Akteurinnen und Akteure ausgehandelt. Dabei wirken zwei tendenziell gegensätzliche, aber miteinander verwobene Kräftefelder, eines „von oben“ – also politische Kontrolle, Regierung und Verwaltung – und eines „von unten“ – also Akzeptanz bzw. Identifikation mit einem Territorium oder Widerstand dagegen. Oder anders formuliert: Egal wie eine Region „von oben“ definiert wird, wenn keiner mitmacht, gibt es diese Region nicht (Paasi 2003).

      Region und „Heimat“: top-down und bottom-up konstruiert

      Anders herum stehen, wie Wilfried Müller und Martina Steber zeigen, die meisten vermeintlich bottom-up gewachsenen, unter dem Signet von „Heimat“ und „Heimatschutz“ seit dem 19. Jahrhundert inszenierten, regionalen Identitäten für die eminent enge Bindung solcher Identitätsangebote an die Entwicklung von Staatlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert. „Das bayerische Schwaben“, so Steber, „ist ein Kind der Moderne“ (Müller & Steber 2018, 660; Steber 2010).

      Der Landeshistoriker Ferdinand Kramer schlägt drei Perspektiven vor, um die durch die Begriffe Region und Regionsbildung sowie „die damit assoziierten Räume, Landschaften, Territorien, Herrschaften etc.“ definitorisch fassen zu können:

      Drei Perspektiven auf die Definition von Region und Regionsbildung

      Erstens ist eine mehr oder weniger herrschaftsfreie Perspektive zu nennen, die geographische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Spezifika, Sprache und Kultur als Identifikations- und Unterscheidungsmerkmale kennt. Zum zweiten ist in einem Kontext von Herrschaft die Perspektive der Regierenden auf die von ihnen beherrschten und in verschiedenen Regionen verwalteten Räume zu sehen, was in der Regel mit dem Begriff der „Provinz“ belegt wurde. Zum dritten ist die Perspektive eigener, autochthoner oder erworbener autonomer Rechte, Macht und Herrschaft zu beachten, wie dies etwa durch die Erblichkeit in zahlreichen Adelsherrschaften oder durch Republiken, Stadtstaaten in Norditalien, in der Schweiz oder im Reich, durch geistliche Territorien oder Kommunen möglich wurde (Kramer 2011, 2–3).

      In Summe bewegt er sich mit diesem Vorschlag weitgehend innerhalb eines politikgeschichtlichen Paradigmas. Damit steht er auch in der regionalhistorischen Szene nicht alleine da. Jacobson et al. distanzieren sich zum Beispiel von einem Regionsverständnis, das entweder rein geografisch oder ökonomisch argumentiert oder das Region nur als konstruierte Identität aus Erinnerung und Kultur herleitet:

      The region is not only a geographically defined zone of work and production. It is not only a popular repository for language, traditions, folklore, and religion. The region is also defined by the existence of juridical, political, ecclesiastical, and administrative structures that have affected the lives of people over centuries through a plethora of rules and practices which range from marriage to divorce, from crime to taxation, from legitimacy to inheritance, from education to health, from voting to minority rights (Jacobson et al. 2011, 55).

      Es bleibt ein letzter in der Geschichtswissenschaft beheimateter Regionsbegriff anzusprechen. Es handelt sich um das „Land“ in der „Landesgeschichte“.

      Das Land der Landesgeschichte

      Die fachliche Diskussion der letzten dreißig Jahre, die darum kreist, welches Verständnis von Land die landesgeschichtliche Forschung hat, dokumentiert viele divergente Positionen, Perspektiven und forschungspraktische Entscheidungen, die zu diskutieren hier zu weit führt. Etwas verkürzt formuliert kann die Sache wie folgt auf den Punkt gebracht werden: Es gibt die Traditionslinie, die auf die historische Geografie und die historische Landeskunde zurückführt, und damit auf Namen wie den schon angesprochenen Friedrich Ratzel oder Rudolf Kötzschke (1867–1949) mit einem sehr differenzierten sozionaturalen Landesbegriff, der in mancher Hinsicht auf eine Art Umweltgeschichte avant la lettre hinausläuft. Und es gibt eine stärker politisch-herrschaftsgeschichtliche Orientierung, die sich entweder an historischen Territorien orientiert, wie den vielen Fürstentümern des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, oder die ganz pragmatisch – und oft ohne dies kritisch zu reflektieren – einfach „Bundeslandgeschichte“ (Freitag 2003, 60) betreibt. Das heißt, der hier untersuchte Bezugsrahmen ist diejenige unternationale Ebene, die in Österreich und Deutschland in Form des Bundeslandes besteht.

      Dabei ist natürlich dem Hinweis des österreichischen Landeshistorikers Heinz Dopsch (1942–2014) zuzustimmen, dass die große territoriale Stabilität der meisten Bundesländer des heutigen Österreich einen landesgeschichtlichen Zugriff plausibel mache. Es gebe in Europa keinen Staat, so schrieb Dopsch (2011), dessen Länder ein derart hohes Alter und eine derart starke räumliche Konstanz aufwiesen wie Österreich (Kap. 3.1.1). So seien sowohl das heutige Niederösterreich als auch die Steiermark schon im 12. Jahrhundert voll ausgeprägte Länder gewesen.

      Dass die Bayerische Landesgeschichte hier größere Probleme mit ihrem räumlichen Bezug hat, liegt auf der Hand, so ist sie ja nicht nur für das historische Altbayern zuständig, sondern auch für die vormals territorial zersplitterten Landesteile Schwaben und Franken. Nicht umsonst verfügt die Universität Augsburg über eine Professur für Europäische Regionalgeschichte, Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, während man in Würzburg mit einer Professur für Fränkische Landesgeschichte aufwarten kann, in deren Denomination das Adjektiv „bayerisch“ gar nicht erst erscheint.

      Die Region der Regionalgeschichte

      Die Frage drängt sich auf, was nach den vielen Stimmen, die hier zu Wort gekommen sind, im Hinblick auf die Definition einer für die Regionalgeschichte brauchbaren Kategorie bleibt. Die gute Nachricht kommt von Řeznik (2019, 37): Gerade das „Wirrwarr“ der vielen verschiedenen funktional argumentierenden Regionsdefinitionen, die im Wissenschaftsbetrieb präsent sind, rege dazu an, „die historischen und kulturellen Formen und die Gründe dessen zu suchen und zu analysieren, was als Region fungiert“. Er selbst nimmt bei folgender Minimaldefinition seinen Ausganspunkt:

      Definition Region

      1) Regionen sind territoriale Einheiten, die sich aufgrund bestimmter Merkmale als relativ homogen definieren lassen.

      2) Regionen sind daher abgrenzbar, obwohl die „Härte“, Eindeutigkeit und die kategoriale oder funktionale Grundlage der Grenzziehung unterschiedlich ist.

      3) Region ist per definitionem keine holistische Kategorie; so lässt sich ein geschlossenes System nicht zugleich sinnvoll als Region beschreiben. Region lässt sich nicht für sich allein und aus sich selbst heraus bestimmen, sondern

      4) Regionen sind nur denkbar als Teile von Systemen, in deren Rahmen sie funktional agieren, gedacht, konstruiert werden. Somit ist eine Region ein Teil eines Ganzen, ein Teil eines oder mehrerer Gefüge / Geflechte, wobei dann auch Regionen möglich erscheinen, die in der einen oder anderen Hinsicht grenzüberschreitend sind. Somit ist Region ein untergeordneter Teil eines übergeordneten Ganzen.

      Mit Partikularität, Homogenität und Verflechtung sind hier Aspekte angesprochen, die wohl in der regionalhistorischen Forschung auf breiten Konsens stoßen.

      Aus der hier vorgenommenen Sichtung historiografischer Zugänge zum Regionsbegriff lässt sich abschließend eine Arbeitsdefinition ableiten:

      Region – Eine Arbeitsdefinition:

      Eine Region ist zum einen ein erkenntnistheoretisches und historisch-soziales Konstrukt mit flexiblen Grenzziehungen, die es im jeweiligen Kontext genau zu definieren und argumentieren gilt, zum anderen aber verdankt sie sich konkreten räumlich-materiellen Faktoren, also einem Realsubstrat mit fassbaren Auswirkungen. Eine Region ist Teil eines übergeordneten geografischen, politischen, sozioökonomischen oder ökosystemaren Ganzen und mit ihrem Außen vielseitig verflochten.

      Die räumliche Ausdehnung kann über nationale Grenzen hinausgehen (Makroregionen) und Räume unterhalb der Nation wie Bundesländer oder wesentlich kleinere


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