Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik. Michael Bohnet
Auf diese Situation reagierte der Bundeskanzlererlass vom 23. Dezember 1964. Er verbriefte zum ersten Mal die Eigenständigkeit der Entwicklungshilfepolitik.12 Dem BMZ wurde die Zuständigkeit für die Grundsätze und Programme der Entwicklungshilfepolitik sowie die Planung und Durchführung der Technischen ZusammenarbeitZusammenarbeittechnische übertragen, die bisher beim AA lag. Die Zuständigkeit des BMWi für die KapitalhilfeKapitalhilfe und die Verantwortung des AA für alle außenpolitischen Fragen der Entwicklungshilfe blieben unangetastet.13, 14 Walter ScheelScheel, Walter bekannte in der Haushaltsdebatte am 24. Mai 1965: „Nun ich muss sagen, dass bei der Neuregelung von Zuständigkeiten die Umsetzung einer Grundsatzentscheidung in die Praxis ein ungewöhnlich qualvoller Prozess ist. Aber dieser Prozess muss nun einmal durchgestanden werden.“15
Während seiner Amtszeit (1961–1966) erarbeitete Walter ScheelScheel, Walter die ersten Konturen der deutschen Entwicklungspolitik.
Vor über 60 Jahren kam der HallsteinDoktrinHallsteindoktrin eine besondere Bedeutung zu. Der HallsteinDoktrin zufolge wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen dritter Staaten mit der DDR von der Bundesrepublik aufgrund ihres Alleinvertretungsanspruches für das gesamte deutsche Volk als unfreundlicher Akt angesehen und in der Regel mit dem Abbruch bzw. der Nichtaufnahme diplomatischer Beziehungen beantwortet. Entwicklungspolitik war ein Instrument zur Durchsetzung der HallsteinDoktrin.16, 17 Man drohte bei der Anerkennung der DDR mit der Einstellung der Entwicklungshilfe. Die Entwicklungshilfe wurde gezielt an Länder vergeben, um die Anerkennung der DDR durch Staaten der Dritten Welt zu verhindern.18 Der Erfolg dieser Politik war, dass außer Kuba und Kambodscha bis 1969 kein Entwicklungsland volle diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahm.19 Die Instrumentalisierung der Entwicklungspolitik als Mittel der Deutschlandpolitik schlug sich in einer breiten Streuung der Entwicklungshilfe nieder („GießkannenprinzipGießkannenprinzip“)20. ScheelScheel, Walter schrieb dazu: „Der wichtigste Grund für die Ausarbeitung eigener Hilfsprogramme für jedes einzelne Empfängerland ist der, dass die Bundesrepublik, ähnlich wie die USA, nur mit einem sehr viel geringeren Hilfspotenzial gezwungen ist, praktisch alle Entwicklungsländer bei der Durchführung ihres Aufbauprozesses zu unterstützen. Die Bundesrepublik kann sich nicht – wie dies vor allem Frankreich und Großbritannien tun – ausschließlich oder überwiegend auf bestimmte Regionen konzentrieren.“21 Und an anderer Stelle: „Großbritannien arbeitete in den letzten Jahren mit 40 Entwicklungsländern zusammen, Frankreich mit 23, wir jedoch mit 71, im Bereich der Technischen Hilfe sogar mit 90. Die besondere politische Lage unseres Vaterlandes lässt es zunächst geboten erscheinen, möglichst viele Entwicklungsländer zu unterstützen“ und eine entsprechend „weitgestreute Entwicklungspolitik zu betreiben.“22
Und weiter: „Wir können von den Entwicklungsländern Unterstützung in der Frage der Wiedervereinigung nur erwarten, wenn wir auf ihr eigenes vordringlichstes Interesse – die Förderung ihres wirtschaftlichen Aufstiegs – in dem gebotenen Maße eingehen. Durch Verständnis für die Sorgen der Entwicklungsländer müssen wir um Verständnis für unsere eigenen Probleme werben. Der Ostblock und nicht zuletzt die sowjetische Besatzungszonesowjetische Besatzungszone haben diese Zusammenhänge erkannt und konkurrieren mit uns um Sympathie und politisches Verständnis der Entwicklungsländer. Die sowjetische Besatzungszone ist in 23 Ländern der Dritten Welt mit insgesamt 33 Vertretungen (Generalkonsulate, Konsulate, Handelsvertretungen, Vertretung der Kammer für Außenhandel, der deutschen Notenbank, des Ministeriums für Außenhandel) tätig und versucht, durch steigenden Einsatz personeller und wirtschaftlicher Mittel und Kräfte ihre Anerkennung zu erreichen. Doch die HallsteinDoktrinHallsteindoktrin hat sich als eine Formel erwiesen, deren flexible Anwendung die formale Anerkennung der SBZ durch Entwicklungsländer bisher verhindern konnte.“23
Neben der Deutschlandpolitik wurde auch das Spannungsfeld zwischen Entwicklungspolitik und Außenwirtschaftspolitik in den 1960er-Jahren intensiv diskutiert.24, 25 ScheelScheel, Walter setzte sich mit Nachdruck für die Berücksichtigung außenwirtschaftlicher Interessen ein: „Es wäre eine fragwürdige Exporthilfe, wenn wir Kapitalhilfe nur deshalb geben würden, damit die deutsche Investitionsgüterindustrie exportieren kann. Es geht vielmehr darum, dass die deutsche Entwicklungspolitik, ohne sie zu einer simplen Exportförderungspolitik zu machen, zu einem Instrument entwickelt wird, das langfristig gesehen einen entscheidenden Beitrag zur Konsolidierung unseres Außenhandels mit der Dritten Welt leisten kann. So gesehen versteht sich Entwicklungspolitik als Basisinvestition für den lebenswichtigen Außenhandel der deutschen Wirtschaft. Durch eine geeignete Kombination von ausgewählten Maßnahmen und durch geschickte Wahl regionaler Schwerpunkte wird es möglich sein, die entwicklungspolitischen Zielsetzungen mit den außenwirtschaftlichen Interessen langfristig so miteinander in Einklang zu bringen, dass beide Seiten, Geber und Nehmer, den größtmöglichen Nutzen ziehen.“26
Wie alle Gebernationen stand auch die Bundesrepublik seit Beginn ihrer Unterstützungspolitik vor der grundsätzlichen Frage, ob sie den Entwicklungsländern über gemeinsam getragene multilaterale Organisationen helfen oder ob sie direkt mit den einzelnen Empfängerländern Verträge schließen sollte. Die offizielle ebenso wie die interne Diskussion vollzog sich weitgehend in der verengten Perspektive geberorientierter Interessenstandpunkte.
Die Situation der deutschen Teilung legte es nahe, sich mit einer gezielten bilateralen Förderungspolitik möglichst viele politische Freunde in der Dritten Welt zu erwerben. Bei der Entwicklungspolitik war die „Strahlkraft der Projekte für das freie Deutschland“ intendiert. Man glaubte, beide Ziele, die Stärkung des eigenen Wiedervereinigungsstandpunktes wie die Demonstration des „besseren Deutschlands“, nur über direkte entwicklungspolitische Kontakte von Land zu Land erreichen zu können. Die hohe Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft legte eine DefactoBindung finanzieller Hilfe an deutsche Lieferungen nahe.
Unter öffentlichkeitspolitischen Gesichtspunkten argumentierte man, ein wachsender entwicklungspolitischer Beitrag lasse sich auf die Dauer nur dann mobilisieren, wenn dem skeptischen Steuerzahler ein möglichst direkter politischer und wirtschaftlicher Nutzen nachgewiesen werden könne. Faktisch bleibt festzuhalten, dass der Anteil multilateral geleisteter öffentlicher Hilfe an der öffentlichen Hilfe der Bundesrepublik im Durchschnitt der Jahre 1963–1966 insgesamt verschwindend gering war, nämlich bei 6 % lag.27
Regional setzte ScheelScheel, Walter Schwerpunkte in Asien. Deutschland hatte mit den Ländern des asiatischen Kontinents schon seit jeher gute wirtschaftliche und politische Beziehungen. Es war daher nur natürlich, dass die Bundesrepublik bei ihren entwicklungspolitischen Maßnahmen gerade diesem Raum besondere Beachtung schenkte. Schwerpunkte der deutschen Entwicklungshilfe in Asien waren die Länder IndienIndien, PakistanPakistan und AfghanistanAfghanistan.
Das Stahlwerk RourkelaStahlwerk Rourkela28 in IndienIndien war eines der größten deutschen Entwicklungshilfeprojekte. Das Rourkela Stahlwerk wurde mitten im Urwald geplant. 16.000 Menschen wurden umgesiedelt. Zahlreiche Pannen und Fehler sind beim Bau aufgetreten (z.B. Nichtentschädigung der umgesiedelten Bewohner, massive zwischenmenschliche Konflikte bei der Zusammenarbeit der deutschen, völlig unvorbereiteten Fachkräfte mit ihren indischen „counterparts“). Sie brachten den Deutschen den Ruf ein, in fremder Umwelt seien sie mit ihrer Technik und ihrem Leistungsvermögen ziemlich rasch am Ende. Dazu hat ScheelScheel, Walter, der Rourkela am 2. Dezember 1961 besucht hatte29, Stellung genommen und Besserung gelobt:
„Ich möchte mich jetzt mit dem Stahlwerk Rourkela befassen, das als Grundlage für den Aufbau einer weiterverarbeitenden Industrie anzusehen ist. An diesem Beispiel Indiens haben wir gelernt, neben dem perfekten technischen Wissen und Können, neben der technischen Seite eines so großen Unternehmens auch die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte und Probleme zu berücksichtigten. Wenn in Rourkela in der Vergangenheit Schwierigkeiten entstanden sind, dann lagen sie nicht im technischen, sondern im sozialen, zwischenmenschlichen Bereich. Sie ergaben sich aus der Konfrontation einer hoch technisierten Welt mit einer archaischen gesellschaftspolitischen Umgebung, in die diese Welt hineingepflanzt worden ist. Das muss in Zukunft vermieden werden.“30 Daraus entstand das Instrument der SozialstrukturhilfeSozialstrukturhilfe, die die „durch den wirtschaftlichen Aufbau ausgelösten Veränderungen im