Analysieren, Interpretieren, Argumentieren. Pascal Pitz

Analysieren, Interpretieren, Argumentieren - Pascal Pitz


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und das Erörtern einer Streitfrage nicht die Präzision und Exaktheit einer mathematischen Aufgabenlösung. Denn diese hat nun mal nur ein bestimmtes Ergebnis, während verschiedene Verfasser eines Aufsatzes zum gleichen Thema zu verschiedenen Ergebnissen kommen, die alle mehr oder weniger vertretbar, aber keinesfalls notwendig sind. Das bedeutet indes nicht, dass der Weg zum Ziel beliebig variabel wäre. In dieser Hinsicht sind sich die Deutsch- und die Mathematikaufgabe gleich: Die Einhaltung des Lösungsweges, d.h. die Bindung an eine bestimmte Form erst führt zum Erfolg. Das werden Sie vielleicht im Geschichtsunterricht bemerkt haben. Ich erinnere mich, wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, jedenfalls an kaum eine Prüfung, in der nicht die Erschließung einer historischen Textquelle verlangt war. Wer nun im Deutschunterricht nicht aufgepasst hatte, dem drohten auch hier unschöne Korrekturanmerkungen – etwa: „Einordnung in den historischen Kontext fehlt“ (das wäre in der Einleitung zu leisten gewesen) oder „Ergebnis nicht ganz nachvollziehbar“ (möglicherweise ein Hinweis darauf, dass der Bearbeiter interpretiert hat, ohne zuvor analysiert zu haben, dass also die Struktur des Hauptteils missachtet wurde).

      Im Studium wird es Ihnen nicht anders ergehen. In der Regel wird man Sie – ebenso wie im Geschichtsunterricht – nicht dazu auffordern, einen Aufsatz zu schreiben, wie Sie ihn aus dem Deutschunterricht kennen. Die gedanklichen Schritte, die der Aufsatz formal in drei separate Teile packt, müssen Sie dennoch gehen, auch wenn Sie sie am Ende nicht alle zu Papier bringen werden. Ein Beispiel: Wenn Sie etwa entscheiden wollen, ob das Gesetz mit dem Begriff „sofort“ einen Zeitraum von wenigen Stunden oder aber doch einigen Tagen meint, dann integrieren Sie dazu in Ihrer Hausarbeit – einem juristischen Gutachten – keinen Aufsatz aus Einleitung, Hauptteil und Schluss. Vielmehr setzten Sie sofort mit den Argumenten ein. Nichtsdestotrotz müssen Sie sich auch bei Ihrer Hausarbeit fragen, wieso Sie argumentieren, d.h. wieso die streitige Frage überhaupt entschieden werden muss – eine nicht notwendige Entscheidung wäre ein schwerer Fehler! –, wie Sie argumentieren wollen und dementsprechend wie Sie Ihre Argumente anordnen müssen, um mit ihnen zu überzeugen. Mit diesen Fragen würden Sie sich, wenn Sie einen Aufsatz schreiben würden, in der Einleitung beschäftigen.

      Auch wenn Sie also im Studium vornehmlich eine Lösung erarbeiten, wie sie beim Aufsatz der Hauptteil leistet, bedarf es einer gedanklichen Vorarbeit. Daneben sollten Sie wissen, wie Sie Ihr Ergebnis präsentieren, und sich daher auch in Erinnerung rufen, was der Schlussteil eines Aufsatzes beinhaltet. In methodischer Hinsicht werde ich für dieses Buch daher die aus dem Deutschunterricht bekannte Dreiteilung übernehmen und in jedem der beiden Teile einen Abschnitt der Vorarbeit (Einleitung), der Erarbeitung (Hauptteil) und der Darstellung (Schluss) des Ergebnisses widmen. Ein willkommener Nebeneffekt: Auf diese Weise werden Sie Schritt für Schritt mit den Anforderungen an die Aufgabenstellung vertraut und können die strukturierte Vorgehensweise der Lösung erkennen. Unabhängig von Ihren Vorkenntnissen werden Sie feststellen, wie leicht das Analysieren, Interpretieren und Argumentieren mit der richtigen Technik sein kann.

      3 Hinweise zur Lektüre

      Damit Sie sich in diesem Buch problemlos zurechtfinden, möchte ich Ihnen zur Lektüre vorab einige Hinweise geben. Wichtige Begriffe sind im Text durch Fettdruck hervorgehoben, viele von ihnen finden Sie auch im Sachregister am Ende des Buches. Wissenschaftler, die für das Thema dieses Buches bedeutende Erfolge erreicht haben, werden Ihnen in einem kleinen

Infokasten vorgestellt. Damit die Lektüre nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich anschaulich ist, werden Sie zahlreiche
Beispiele entdecken. Unbedingt zu beherrschende Definitionen sind mit dem Symbol
gekennzeichnet. Schließlich enthält dieses Buch
Übungsaufgaben mit Lösungsvorschlägen. Diese sollen Ihnen nicht nur den Erwartungshorizont zeigen, sondern auch ermöglichen, zunächst eine eigene Lösung zu entwickeln, bevor Sie sich meinen Vorschlag ansehen.

Teil I Analysieren und Interpretieren

      Wer etwas lernen will, sollte sich zunächst darüber im Klaren sein, wo er steht. Lassen Sie mich zu Beginn daher einen Blick auf die Vergangenheit werfen, um so das bisher angestrebte Niveau der Texterschließung zu verdeutlichen. Mit der Technik des Analysierens und Interpretierens wurden Sie – jedenfalls in Grundzügen – bereits in der Unter- und Mittelstufe konfrontiert. Spätestens in der Oberstufe werden Sie sodann einen gewissen Quantensprung erlebt haben, sind doch die Anforderungen des Abiturs in zweierlei Hinsicht spürbar verschärft:

      Zunächst mussten Sie sich mit der jeweiligen Aufgabenstellung weitaus intensiver auseinandersetzen und etwa einen Text auch vor dem Hintergrund seiner Epoche und der Biographie des Autors verstehen. Es wurde von Ihnen eine tiefgründigere Untersuchung verlangt, die im Vergleich zu früheren Arbeiten einen qualitativen Unterschied ausmachte.

      Während Sie den erhöhten Erwartungshorizont insoweit in die Aufgabenstellung nur hineinlesen konnten, sahen Sie ihr den quantitativen Unterschied vergleichsweise deutlich an. Denn wo Sie sich früher nur mit spezifischen Teilaspekten der Gesamtuntersuchung beschäftigten, also beispielsweise das Reimschema eines Gedichts benennen, den Text in Handlungsabschnitte untergliedern oder die Erzählperspektive des Autors aufzeigen sollten, dort wurde von Ihnen nun ganz allgemein die Analyse und Interpretation des Textes verlangt. Erwartet war also eine umfassende Bearbeitung, die alle notwendigen Aspekte berücksichtigt und den Bearbeiter am Ende dazu befähigt, zur Kernaussage des Textes persönlich Stellung zu nehmen. Welche Aspekte zu den „notwendigen Aspekten“ gehören, war dem Wortlaut der Aufgabenstellung allerdings nicht unmittelbar zu entnehmen. Vielmehr mussten Sie selbstständig erkennen, welche Fragen im Rahmen Ihres Aufsatzes geklärt werden mussten.

      Freilich erscheint diese Einteilung in qualitative und quantitative Unterschiede als unzulänglich, bedenkt man, dass erst das Zusammenspiel von Quantität (Berücksichtigung aller relevanten Aspekte) und Qualität (intensive Beschäftigung mit dem jeweiligen Aspekt) die Erschließung des Textes ermöglicht und dass etwa die ausführliche Auseinandersetzung mit den sprachlichen Besonderheiten sowohl eine Aussage über die Qualität als auch über die Quantität der Bearbeitung zulässt. Will man daher ein Fazit ziehen, so kann dieses nur lauten, dass Sie zu Beginn der Oberstufe im Fach Deutsch mit einer Aufgabenstellung konfrontiert wurden, auf die Sie zwar schrittweise vorbereitet wurden, die Sie aber zunächst vor eine überwiegend neue Herausforderung stellte.

      Dem erhöhten Erwartungshorizont haben Sie mit dem bestandenen Abitur erfolgreich Rechung getragen. Die grundsätzliche Herausforderung aber besteht fort, mehr noch: Das Studium birgt einen zweiten Quantensprung. Dass das Erfordernis der Texterschließung mit der letzten Deutschprüfung nicht entfällt, wurde bereits angesprochen. Und inwiefern der Erwartungshorizont nun gegenüber dem einer Schulklausur nochmals erhöht ist, wird vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Zielsetzungen klar: Der Deutschunterricht soll Ihnen die Grundlagen und mithin die technische Seite der Texterschließung vermitteln, auf der das Studium sodann aufbauen kann. Dazu werden die allgemeinen Regeln mitunter fachspezifisch ergänzt. Aber auch wenn dies nicht der Fall ist, so besteht die erhöhte Anforderung doch zumindest darin, dass neben der technischen Seite Ihrer Bearbeitung nun deren inhaltliche Qualität von weitaus größerer Bedeutung ist. Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich muss auch in Schulklausuren der Inhalt stimmen. Die wissenschaftliche Leistung zeichnet sich jedoch in besonderer Weise durch ihre Vollständigkeit und Detailgenauigkeit aus, weil sie im wissenschaftlichen Kontext bestehen und auf alle denkbaren Einwände vorbereitet sein muss. Der Student arbeitet – anders als der Schüler – ausgehend von dem Ergebnis früherer fachlicher Errungenschaften und in dem Bewusstsein, dass seine Arbeit einen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs leistet. Die darin liegende qualitative Herausforderung kann aber nur bestehen, wem die technische Seite der Bearbeitung keine Probleme mehr bereitet. Der erste Teil dieses Buches ist daher dem Ziel gewidmet, Sie mit der Technik des Erschließens vertraut zu machen.

      1 Warum muss ich analysieren und interpretieren?

      Manch ein


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