Analysieren, Interpretieren, Argumentieren. Pascal Pitz
target="_blank" rel="nofollow" href="#fb3_img_img_a7f48f71-b964-5faa-a0d5-63cb78f2b5c9.jpg" alt=""/>Interpretieren heißt dagegen die verständige Entschlüsselung eines sprachlichen Zeichens, das der Codierung B unterliegt.
Dabei sollte indes nicht der Eindruck erweckt werden, interpretieren bedeute stets die Ergründung der wahren Aussageabsicht des Senders. Dies ist ein möglicher, keinesfalls aber ein zwingender und noch weniger ein hinreichender Aspekt der Interpretation. In Anlehnung an den Rechtswissenschaftler Gustav Radbruch könnte man das geschriebene Wort mit einem Schiff vergleichen, das „bei der Ausfahrt vom Lotsen auf vorgeschriebenem Wege durch die Hafengewässer gesteuert wird, dann aber unter Führung des Kapitäns auf freier See den eigenen Kurs sucht“.3
Lieber Empfänger, Sie sind der Kapitän! Denn das Verstehen eines Textes ist nicht autoren-, sondern vielmehr adressatengebunden. Zwar ließe sich behaupten, ein Text könne nur unter Bezugnahme auf seine Entstehungsgeschichte, die biographischen Hintergründe des Autors und im Kontext der übrigen Werke seines Verfassers „richtig“ verstanden werden. Dann aber müsste man davon ausgehen, dass es die Aufgabe des Lesers sei, gerade nur den Urheber der Botschaft, nicht aber die Botschaft an sich zu verstehen. Möglicherweise wird aber der Autor selbst nach der Absendung unter anderen gegebenen Umständen, vor einem anderen Erfahrungshorizont, in einer anderen zeitlichen und räumlichen Situation das Geschriebene in einer anderen Weise empfangen und verstehen, als dies zum Zeitpunkt bei oder unmittelbar nach der Absendung der Fall gewesen ist. Der Sender wird in dieser Weise gewissermaßen zum Empfänger seiner eigenen Botschaft. Niklas Luhmann lässt dieses Phänomen unbeachtet, weil er Kommunikation stets nur als soziale Operation, also als solche zwischen zwei unterschiedlichen Individuen definiert. Gerade die Absender- und Empfängergleichheit, das Zusammentreffen von Alter und Ego in einer Person zeigt indes die Deutungsoffenheit von Kunst.
Und wenn der Urheber die Bedeutung seiner Worte nicht abschließend determinieren und sich daher selbst zu einem späteren Zeitpunkt anders verstehen kann, so wäre es irrsinnig, alle Nichturheber an die ursprüngliche Aussageabsicht zu binden. Der Leser kann daher einen Text anders verstehen, als dies der Autor beabsichtigte, ohne dass seine Interpretation dadurch fehlerhaft würde, gerade auch weil der Autor zum Zeitpunkt der Absendung die Reichweite seiner Botschaft mitnichten zu überblicken vermag. Die Interpretation ist nur an das sprachliche Zeichen und die Konvention, nicht aber auch an den Sender gebunden.
Damit wird auch deutlich, dass das Abweichen von dem sicheren Bereich einer gemeinsamen sprachlichen Konvention keineswegs ein bewusster und gewollter Schaffensprozess des Senders sein muss. Es geschieht vielmehr unbewusst und ist regelmäßig notwendig, weil der sichere Bereich der Konvention keineswegs so sicher ist, wie es scheint. Unsere alltägliche Sprache ist in erheblichem Maße ungenau. So kann die einfache Bekundung des Nichtwollens sowohl bedeuten, dass der Sender etwas nicht tun wird, als auch, dass er es nur widerwillig tut. Und was mit einer Sache gemeint ist, hängt davon ab, ob ich sie bei mir führe oder etwas zu ihr beitrage. Das liegt daran, dass wir uns im täglichen Umgang keiner exakten Wissenschaftssprache bedienen, die die Bedeutung eines Begriffes eindeutig definiert. Bezieht man den zeitlichen Aspekt mit ein, so kommt hinzu, dass Begriffe dem BedeutungswandelBedeutungswandel unterliegen und in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen ggf. eine unterschiedliche Resonanz erfahren. War die Bezeichnung „Fräulein“ vor wenigen Jahrzehnten noch eine geläufige Anredeform, erreicht sie heute fast schon die Qualität einer Beleidigung. Auf Grund dieser Ungenauigkeit wird die Umgangssprache nicht zur Kunst, sie zeigt aber, dass diese Sprache mitunter nicht weniger deutungsoffen ist. Daher bleibt festzuhalten: Nicht nur literarische Texte, die gemeinhin als künstlerisch gelten, sondern nahezu alle sprachlichen Erzeugnisse bedürfen der Auslegung, wenn sie keine exakte wissenschaftliche Bedeutung erfahren.
Was aber ist, wenn sich der Sender völlig entfernt? Bisher war nur die Rede davon, dass sich die sprachliche Äußerung im Kern- oder Randbereich der gemeinsamen Konvention bewegt. Was aber muss der Empfänger tun, wenn der Sender diesen Bereich verlässt? Die Frage ist vor allem vor dem Hintergrund einer jüngeren Entwicklung interessant, die man als Angloamerikanisierung der Sprache bezeichnen könnte. Gemeint ist damit der Umstand, dass wir heute kaum mehr Zeitung lesen, ins Kino gehen oder miteinander kommunizieren, ohne auf AnglizismenAnglizismus zu stoßen. Freilich sind derartige sprachliche Entwicklungen dem Deutschen nicht fremd, bedenkt man einmal die Fülle an französischen Begriffen, mit denen wir wie selbstverständlich umgehen: Restaurant, Terrasse, Portemonnaie, Klischee, Parfum, Salon usw. Doch gerade in dieser Selbstverständlichkeit liegt der entscheidende Unterschied: Denn während die ursprünglich französischen Begriffe in den sicheren Bereich unserer Konvention vollständig integriert sind, erleben wir die Angloamerikanisierung derzeit als noch nicht abgeschlossenen Prozess. Dies mag für „cool“, „lifestyle“ und einige weitere Vertreter anders sein, für „research assistants“ und „understatements“ mit Blick auf einen Großteil der Bevölkerung aber noch gelten. Wer sich derartiger Begriffe bedient, tut dies in der Regel nicht in künstlerischer Absicht und es handelt sich hier auch nicht um eine Form der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks, die uns bei der Umgangssprache begegnet. Gelangt der Empfänger im Rahmen seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass der Sender „außerkonventionell“ codiert (Codierung C), so hat er die Botschaft im nächsten Schritt also nicht so zu interpretieren, wie er eine künstlerische oder mehrdeutige Wendung (Codierung B) untersucht. Will man hier überhaupt von einer Interpretation sprechen, so kann diese nur darin bestehen, zu ergründen, warum sich der Sender so merkwürdig verhält.
2 Die Arbeitsschritte der Texterschließung
Mit dieser begrifflichen Festlegung der Operatoren gehen zwingende Konsequenzen in Bezug auf die Bearbeitungsmethode einher. Denn wer versteht, dass die Analyse eine Unterscheidung und die Interpretation eine an diese Unterscheidung anknüpfende weitere Untersuchung ist, der versteht auch, dass die Analyse der Interpretation gedanklich stets vorausgehen muss: Die Analyse ist Anfang und Ende der Interpretation.
Denn erstens kann nicht interpretiert werden, was nicht analysiert wurde.
Zweitens kann die Interpretation über den von der Analyse gesetzten Rahmen nicht hinausgehen, ohne zu einer nicht mehr nachvollziehbaren (Über-)Interpretation zu werden. Das Ergebnis der Interpretation darf sich von dem zugrunde liegenden Text nicht so weit entfernen, dass es in diesem keinen Anhaltspunkt mehr findet. Was nämlich keine Aussage des Textes mehr ist, kann nur eine solche des Bearbeiters sein, die zwar im Rahmen einer Stellungnahme zum Text – ggf. also im Anschluss an die Interpretation –, nicht aber bei einer Interpretation des Textes zu verorten ist. Hier hat eine kritische