Analysieren, Interpretieren, Argumentieren. Pascal Pitz
im Deutschunterricht erworbenen Fähigkeiten möglicherweise erst zu einem viel späteren Zeitpunkt erkennen, dann aber feststellen wird, dass nicht nur die Werbung, sondern auch die Politik von der Kraft der Rhetorik lebt, und dass Menschen von Zeit zu Zeit zweideutige Botschaften versenden und etwa das lieb klingende Kompliment des Kollegen in Wahrheit einem hinterrücks gestochenen Dolch ähnelt.
Sie als (angehender) Textwissenschaftler haben bereits erkannt oder werden bald erkennen, wieso Sie die Fähigkeit besitzen müssen, zu analysieren und zu interpretieren. Nach meinem Begründungsversuch im Vorwort will ich Ihnen nun ein ausführliches Beispiel geben.
Bei genauer Betrachtung kann man die Frage, wieso man einen Text erschließen muss, aber noch anders verstehen. Denn mit dem Hinweis darauf, dass es im privaten Alltag ebenso wie im Berufsalltag eine wichtige Rolle spielt, fremde Aussagen zu verstehen, ist noch nicht erklärt, wieso es für dieses Verständnis einer besonderen Technik, namentlich der Analyse und Interpretation bedarf. Ich möchte daher, bevor wir in die Einzelheiten der Technik einsteigen, die grundsätzliche – und bisher vielleicht noch nicht hinreichend von Ihnen beachtete – Frage stellen, wieso man Sprache überhaupt erschließen muss, um sie zu verstehen.
Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst wissen, was SpracheSprache ist und wie sie funktioniert. Definieren wir also:
In Anlehnung an den Soziologen Niklas Luhmann könnte man diese beiden Alter und Ego nennen1, fügt man ihre jeweilige Funktion hinzu, vom SenderSender und EmpfängerEmpfänger sprechen. Der Sender übermittelt eine bestimmte Botschaft, die der andere empfängt. So einfach, so gut.
Genau dieser Übermittlungsvorgang ist nun aber das Problem. Denn das, was der Sender übermitteln will, nämlich die Vorstellung, etwa dass der Empfänger zum Fenster geht und dieses öffnet, kann er auf direktem Wege nicht übermitteln. Wir können von Gehirn zu Gehirn keine Bilder versenden, sondern müssen die außersprachliche Wirklichkeit mittels Sprache in einen Code übersetzen. Erst wenn der Empfänger diesen Code versteht, die vom Sender gewählten „sprachlichen Zeichensprachliches Zeichen“ also entschlüsselt, erkennt er die gedankliche Vorstellung des Senders.
Kommunikationsmodell
Betrachtet man nun dieses „sprachliche Zeichen“, so empfiehlt sich in Anlehnung an den Linguisten Ferdinand de Saussure die Unterteilung in das Bezeichnete (SignifikatSignifikat, signifié), also das Bild, auf das sich das sprachliche Zeichen bezieht, und das Bezeichnende (SignifikantSignifikant, signifiant), mithin die Aneinanderreihung bestimmter Lexeme und Laute zur Bildung der sprachlichen Bezeichnung.2 Damit die verständige sprachliche Kommunikation zwischen zwei Menschen funktioniert, der Empfänger also durch Entschlüsselung des Codes die Vorstellung des Senders erkennt, muss die Verknüpfung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem einer Regel folgen. Sie muss sich auf eine sprachliche Konvention beziehen, die festlegt, dass etwa die geordnete Aneinanderreihung der Buchstaben F-E-N-S-T-E-R in ihrer optischen und akustischen Komponente zur sprachlichen Verschlüsselung dessen dient, was der Sender als Bild übermitteln will. Nur wenn sich Sender und Empfänger bei der Codierung und Decodierung auf dieselbe Konvention beziehen, erfährt der Empfänger durch die Entschlüsselung des sprachlichen Zeichens den Verweis auf das vom Sender in Bezug genommene Bild der außersprachlichen (tatsächlichen) Wirklichkeit.
Am Ende sind wir damit allerdings nicht. Denn wenn dieses Modell den Kommunikationsprozess tatsächlich abschließend darstellt, dann muss aus ihm doch auch hervorgehen, wieso der Empfänger die Aufgabe hat, die Botschaft des Senders einer Analyse und Interpretation zu unterziehen. Man muss diese beiden Operatoren in dem Modell selbst „verorten“ können. Und das gelingt: Unterstellt man, dass jeder Sender verstanden werden will – und bitte gehen Sie immer davon aus! –, so steht es dem einzelnen Sender dennoch frei, inwieweit er die Codierung des sprachlichen Zeichens von der allgemein zugrunde liegenden Konvention einer gemeinsamen Sprache entfernt, solange er ein Mindestmaß an Verständlichkeit wahrt. Innerhalb eines begrenzten Spektrums ergeben sich für ihn also zwei Möglichkeiten:
Er kann dem Empfänger zunächst klipp und klar sagen, was gemeint ist, ihn also deutlich auffordern, bitte zum Fenster zu gehen und dieses zu öffnen. Diese sachliche, neutrale Codierung möchte ich fortan mit dem Buchstaben A bezeichnen. Der Sender muss es dem Empfänger aber keinesfalls so einfach machen und kann etwa nur seufzend preisgeben, wie warm es doch heute in diesem Zimmer sei – selbstverständlich in der Hoffnung, der Empfänger werde den Wink verstehen und sich auch in diesem Fall zur Öffnung des Fensters veranlasst sehen. Diese Art der Codierung will ich kreative, offene Codierung B nennen. Während der Empfänger im ersten Fall mit der Entschlüsselung des Codes die Vorstellung des Senders unmittelbar erkennt, muss er die Aussage des Senders im zweiten Fall auslegen, also entscheiden, ob der Sender die vorhandene Wärme bloß feststellen oder aber darüber hinaus noch eine Bitte äußern wollte. Die verständige Entschlüsselungstätigkeit des Empfängers ist daher maßgeblich von der Art und Weise bedingt, mit der der Sender codiert.
Damit lässt sich für die beiden Operatoren behaupten: