Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt
der umso größer ist, je enger die Beziehung zwischen Prime und Target ist. Die Erklärung: Unser Wissen ist in Netzwerken von Konzepten gespeichert, zwischen denen mehr oder weniger stark gebahnte Relationen bestehen. Jedes gehörte oder gelesene Wort erzeugt eine Aktivationsausbreitung, zwischen „krank“ und „Arzt“ besteht eine stärkere Verbindung als zwischen „Brot“ und „Arzt“, deshalb wird die Reaktion darauf erleichtert bzw. erfordert geringere Ressourcen.
Man spricht auch von einem semantischen Anwärmeffekt. Derartige Priming-EPrimingffekte sind sogar messbar, wenn ein vorgeschalteter Kontext so kurz dargeboten wird (40 Millisekunden), dass er von den Vpn nicht bewusst erkannt wird (Fischler & Goodman, 1978). Es gibt zahlreiche bewährte Varianten des Priming. Man kann nicht nur Wörter, sondern auch Satzteile und ganze Sätze voraktivieren. Priming-Experimente verlangen den Einsatz von Computern, um präzise Reaktionzeiten im Bereich von Millisekunden zu messen. Die Validität der Methode ist überzeugend, um Assoziationen im Gedächtnis aufzudecken.
EyeEye Tracking TrackingBlickbewegung (Eye Tracking)
Beim Lesen gleitet der Blick nicht kontinuierlich über die Zeilen, sondern bewegt sich mit Sakkaden (Sprüngen) und Fixationen vorwärts und manchmal auch wieder zurück (Regressionen). Nur während der Fixationen werden Wörter verarbeitet (ausführlicher Kap. 6.1). Die Fixationen und Sakkaden beim Lesen lassen sich mit Eye-Trackern genau registrieren (Bartl-Pokorny et al., 2013). Die Vp sitzt einem Monitor gegenüber, auf dem der Text präsentiert wird. Da beim Lesen die visuelle Aufmerksamkeit auf ein enges Areal auf einer Zeile fokussiert und eine sehr genaue zeitliche Auflösung notwendig ist, wird der Kopf durch eine Kinn- oder Stirnstütze stabilisiert. Um die Augenbewegungen zu erfassen, wird ein nicht sichtbarer Infrarot-Lichtstrahl über einen Spiegel auf das Auge der Vp gerichtet, seine Reflexion durch die Hornhaut wird von einer Kamera erfasst. Ein Computer mit entsprechender Software berechnet das Fixationsmuster, es wird als Scan Path visualisiert, bei dem die Sakkaden als Linien und die Fixationen als Kreise dargestellt werden. Für jede Vp muss der Tracker individuell kalibriert werden. Das sieht nicht wie eine natürliche Lesesituation aus, inzwischen gibt es auch Tracker ohne Stabilisierung des Kopfes, die Vp trägt nur eine Spezialbrille.
Bei einer typischen Blickbewegungsstudie wird z.B. ein Satz mit einer kritischen Region vorgegeben, z.B. mit einem Pronomen, das zum Verstehen aufgelöst werden muss.
(2) | Einstein hat mit Freud korrespondiert, persönlich hat er ihn 1926 in Berlin getroffen. |
Es kann nun überprüft werden, ob die Pronomen „er“ und „ihn“ länger fixiert werden und eventuell eine Regression in den Vorsatz erfolgt. Es liegen auch Studien zu den BlickbewegungenBlickbewegung (Eye Tracking) bei langen expositorischen Texten vor (Hyönä, Lorch & Kaakinen, 2002). Sie zeigen verschiedene Lesetaktiken, die zu unterschiedlichen Verstehensleistungen führten.
Die Fixationsmuster lassen valide Schlüsse auf den Verarbeitungsaufwand zu. Was aber während einer Fixation verarbeitet wird, bleibt unklar, es sind sicher nicht nur Prozesse des Worterkennens, sondern auch syntaktische Prozesse.
Neuropsychologische Techniken
Mit diesen Methoden werden Gehirnaktivitäten bei bestimmten Verstehensaufgaben sichtbar gemacht, also neurophysiologische Korrelate für Verarbeitungsprozesse (ausführlich Jäncke, 2017; Müller, 2013).
Ereigniskorrelierte Potenzialeereigniskorrelierte Potentiale (Event Related Potentials = ERP). Viele Elektroden werden auf der Kopfhaut befestigt, meist in einer Art Badekappe. Dann werden einer Gruppe von Vpn bestimmte sprachliche Reize vorgegeben, eine Kontrollgruppe bekommt diese Reize nicht präsentiert. So lässt sich ableiten, wo im Gehirn wann eine Veränderung des Wellenmusters auftritt. Die Methode hat eine gute zeitliche, aber eine schlechte räumliche Auflösung, denn die Messung erfasst nur sehr grobe summierte Potenziale und erlaubt keine genaue tiefere Lokalisierung im Gehirn.
Als Erste haben Kutas & Hillyard (1980) die Methode beim Sprachverstehen benutzt. Sie boten ihren Probanden Sätze, die eine semantische Inkongruenz enthielten, d.h. ein Wort, das nicht in den Kontext passt:
(3.1) | He took a sip from the transmitter. |
(3.2) | Nach dem Regen scheint wieder die Suppe. |
Der Satz wurde Wort für Wort, jeweils 100 Millisekunden auf einem Monitor präsentiert. Dabei wurde durchschnittlich um 400 Millisekunden nach dem kritischen Wort im parieto-temporalen Areal eine negative Amplitude abgeleitet, die N400 getauft wurde. In Folgeuntersuchungen wurde bestätigt, dass N400 eine Reaktion auf eine semantische Inkongruenz ist. Bei einer syntaktischen Verletzung taucht ein anderes Muster P600 auf. Auch eine Verletzung referentieller Bezüge führt zu bestimmten Mustern im posterioren Bereich (Hemforth, 2006). Aber was bedeutet z.B. N400 genau? 200 Millisekunden nach dem kritischen Wort ist das Satzverstehen bereits abgeschlossen, N400 zeigt also offenbar nachträgliche Verarbeitungsprozesse an (Müller, 2013).
Bildgebende Verfahren. Validere Daten liefern bildgebende Verfahrenbildgebende Verfahren, bei denen die Areale eingefärbt sichtbar gemacht werden, die bei Prozessen des Verstehens aktiviert sind. Bei der Positronenemissionstomografie (PET) werden der Vp radioaktiv markierte Substanzen injiziert, die sich in aktiven Zellen nachweisen lassen. Bei der Funktionellen Kernspintomografie (fMRT oder fMRI) werden nicht radioaktive Strahlungen, sondern magnetische Felder erfasst (ausführlich Jäncke, 2017). Auch die Magnetoencephalografie (MEG) erfasst magnetische Felder. Mit diesen Methoden können kleine Zellbereiche unterhalb von 1-4 mm3 (räumliche Auflösung) und Prozesse im Bereich von 100 msec (zeitliche Auflösung) untersucht werden.
In einer fMRI-Untersuchung lasen oder hörten Vpn vorstellungsaffine Sätze, in denen mentale Rotationen beschrieben wurden (Just et al. 2004):
(4) | The number eight when rotated 90 degree looks like a pair odspectacles. |
Die Vpn sollten entscheiden, ob die Sätze wahr oder falsch sind. Mit fMRI-Daten und deren VisualisierungenVisualisierung war nachzuweisen, dass beim Hören wie beim Lesen Areale des linken Scheitelhauptlappens aktiviert wurden, in denen visuelle Vorstellungenvisuelle Vorstellung, speziell mentale Rotationen generiert werden.
Diese neuropsychologischen Methoden sind vielversprechend, aber drei Nachteile sind nicht zu übersehen: 1. Sie erfordern einen erheblichen apparativen Aufwand. 2. Die Bedingungen, unter denen gemessen wird, sind für die Probanden nicht unbedingt angenehm und weichen weit von natürlichen Situationen ab. 3. Die Interpretation der Daten ist schwierig, denn gemessen wird nur, wo etwas geschieht, aber nicht was dort genau geschieht, das ist eine Einschränkung der Validität.
Simulative Methoden
Bei simulativen Methodensimulative Methode wird eine Teilfähigkeit der Sprachkompetenz mit Hilfe eines Computers nachgeahmt. Dazu schreiben Computerlinguisten Programme (Algorithmen), mit denen ein Computer ein vorgegebenes sprachliches Problem lösen kann, z.B. Subjekt und Objekt eines Satzes finden oder eine Antwort auf eine Frage geben. Die ursprüngliche Idee dahinter: Die einzelnen Schritte des Programms entsprechen den mentalen Prozessen, die beim Lösen des Problems im Gehirn ablaufen.
Aber diese Annahme wird inzwischen bezweifelt. Kein Sprachwissenschaftler geht heute davon aus, dass ein digitaler Computer ebenso funktioniert wie unser Gehirn. Wenn ein Computer einen deutschen Satz korrekt ins Englische übersetzt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er es mit denselben Prozessen und Strukturen wie eine Übersetzerin tut. Trotzdem sind die Bemühungen, sprachverstehende und sprachproduzierende Systeme zu entwickeln, für die Sprachwissenschaft interessant. Denn der Programmieraufwand, der getrieben werden muss, um z.B. eine Anapher aufzulösen, zeigt die Schwierigkeiten auf, mit denen auch unser Gehirn beim Verstehen konfrontiert ist.
Nehmen wir an, wir konfrontieren einen sprachverarbeitenden Computer mit folgendem Satz (Hilpert, 2013):
(5) |
Britta nahm die Zeitung von der Tischdecke und faltete |