Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt


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Schwerverständlichkeit wird mit drei Argumenten verteidigt: dem inhaltlichen Argument (Komplexität des Themas), dem didaktischen Argument (Anregung zum Denken) und dem ästhetischen Argument (Lust am Schreibstil). Schwerverständlichkeit kann intendiert sein, um Kommunikation auf bestimmte Gruppen zu beschränken oder von der dürftigen Argumentation abzulenken. Schwerverständlichkeit dient hier der Abschottung und Verschleierung.

      10. Die Verständlichkeit schriftlicher Kommunikation lässt sich durch drei Ansätze verbessern: Schreibtraining auf Seiten der Textproduzenten, Verstehenstraining auf Seiten der Adressaten und Textoptimierung durch Experten.

      5 Erforschung des Verstehens: Methoden

      Bevor das Verstehen genauer unter die Lupe genommen wird, müssen wir uns einem methodischen Problem zuwenden: Die Prozesse des Verstehens laufen in unserem Gehirn ab und sind nicht direkt beobachtbar. Wir können uns zwar beim Verstehen eines Texts selbst beobachten (Introspektion), aber diese Erkenntnisse sind lückenhaft, zufällig und nicht verallgemeinerbar. Wie gelingt uns ein Blick unter die Schädeldecke?

      In diesem Kapitel lassen wir die quantitativen und qualitativen Methoden Revue passieren, mit denen die empirische Wissenschaft die verborgenen Prozesse und Strukturen des Verstehens aufzudecken versucht. In der Forschung werden zwei Gruppen von Methoden unterschieden: Die einen erfassen Indikatoren zum Prozess des Verstehens während des Lesens (5.1). Die anderen erfassen Indikatoren zum erreichten Verständnis nach dem Lesen (5.2). Nicht bei allen Indikatoren lassen sich Verstehen, Verständnis und Verständlichkeit sauber trennen. Bei jeder Methode wird deshalb die Validität hinterfragt: Was wird durch die Methode genau erfasst?

      5.1 Indikatoren des VerstehensIndikatorenVerstehen

      Hier geht es um die Erhebung von Variablen, die Schlüsse auf Prozesse des Verstehens und den kognitiven Aufwand zulassen. Sie werden während des Ablaufs des Verstehens erhoben.

      VorlesenVorlesen

      Verarbeitungsprozesse, die beim Lesen gewöhnlich still ablaufen, sollen beim lauten Lesen hörbar gemacht werden. Gemessen wird die Latenzzeit zwischen Darbietung des Textes auf einem Monitor und Beginn der WiedergabeWiedergabe (Recall), aber auch die Pausen und das Verlesen sind Indikatoren für Verarbeitungsprozesse (Danks et al., 1983). Allerdings ist die Interpretation der Daten aus verschiedenen Gründen schwierig: 1. Man kann auch vorlesen, ohne den Text richtig zu verstehen. Was z.B. während einer Verzögerung im Kopf abläuft, ist von außen nicht erkennbar. 2. Eine Leseverzögerung kann entweder auf eine schwierige Textstelle oder auf ein Defizit beim Lesenden, z.B. fehlendes VorwissenVorwissen, hinweisen. Die Flüssigkeit beim lauten Lesen wird als brauchbarer Indikator für Lesekompetenz eingesetzt (Fuchs et al., 2001). Diese Methode ermöglicht somit nur einen groben Einblick in das Verstehen.

      Lautes Denkenlautes Denken

      Mit dieser klassischen Methode wird versucht, die Entwicklung eines Verständnisses zu erfassen. Während des Lesens werden die Versuchspersonen (Vpn)1 angewiesen auszusprechen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Die verbalen Daten werden aufgezeichnet und qualitativ ausgewertet.

      Die deutsche Denkpsychologie hat mit der Methode des lauten Denkenslautes Denken einen bisher kaum gewürdigten Beitrag zum Verstehen des Verstehens erbracht. Karl Bühler (1908) legte seinen Kollegen anspruchsvolle Sentenzen oder Sprichwörter vor.

(1) Wer zur Quelle kommen will, muss gegen den Strom schwimmen.

      Nachdem eine Vp mit einem „Ja“ ihr Verständnis des Satzes signalisierte, sollte sie äußern, was ihr beim Verstehen durch den Kopf gegangen war. Selbst für Professoren wohl keine einfache Aufgabe. Ein damals wichtiger Befund: Denken ist ohne visuelle oder andere Vorstellungen möglich.

      Die Validität dieses introspektiven Verfahrens wird unterschiedlich eingeschätzt. Einerseits wird darin eine Möglichkeit gesehen, an Denkprozesse heranzukommen, die mit anderen Methoden nicht erfassbar sind, z.B. Assoziationen, Wissensaktivierung, Schlussfolgerungen (Ericsson & Simon, 1980). Andererseits wird wohl nur ein Bruchteil dessen verbalisiert, was beim Verstehen im Gehirn tatsächlich abläuft (Nisbett & Wilson, 1977). Zudem lassen sich bei den retrospektiven Berichten fortlaufendes Verstehen und abschließendes Verständnis nicht trennen. Lautes Denken offenbart nicht die Verstehensprozesse selbst, sondern liefert nur einen metakognitiven Bericht darüber, der durch Vorannahmen beeinflusst sein kann (Ballstaedt & Mandl, 1984).

      In einer Variante dieser Methode zum interdisziplinären Verstehen studierten Biologen historische FachtexteFachtext, Fachsprache und Historiker biologische Fachtexte und notierten am Rand der fachfremden Texte ihre Verständnisprobleme in Form von Fragen an den jeweiligen Autor (Reinhard et al., 1997). Anhand der problematischen Textstellen konnten fachspezifische Sichtweisen und interdisziplinäre Verständnisprobleme herausgearbeitet werden.

      LesezeitenLesezeit

      Wer länger braucht, um einen Text zu lesen, der investiert auch mehr kognitive Ressourcen gegenüber einem Adressaten, der das in kürzerer Zeit bewältigt. Diese summative Lesezeit sagt aber nichts über die konkreten Verstehensprozesse aus. Genauere Einsichten lassen sich aus den Lesezeiten einzelner Wörter und Wortgruppen gewinnen. So verwenden Just & Carpenter (1987) die Lesezeit pro Wort, Phrase oder Satz als Indikator des Verstehensaufwandes.

      Sie entwickelten die LesezeitLesezeit-Methode des Moving Window. Das Sprachmaterial wird maskiert, z.B. jeder Buchstabe durch einen Bindestrich. Durch einen Tastendruck wird die erste sprachliche Einheit (ein Wort, eine Phrase, ein Satz) durch Buchstaben ersetzt, die Vp kann den Textteil lesen. Drückt die Vp wieder die Taste, verschwindet diese Texteinheit und die nächste erscheint auf dem Monitor. So wird der Text Einheit für Einheit dargeboten und die Verarbeitungszeit zwischen den Knopfdruckreaktionen für jede Einheit wird erfasst (Just, Carpenter & Woolley, 1982).

      Zur Validität lässt sich anmerken: Der Verarbeitungsaufwand wird erfasst, aber es kann nur vermutet werden, auf welche Prozesse er zurückzuführen ist und was die Person verstanden hat. Zudem ist die Lesesituation sehr unnatürlich.

      Reaktionszeiten: PrimingPriming

      Auch kognitive Prozesse benötigen Zeit, wenn auch nur im Bereich von Millisekunden. Reaktionszeiten sagen etwas aus über den Aufwand, der für eine Verstehensaufgabe notwendig ist.

      Ein weitgehend vergessener Pionier der kognitiven Psychologie ist der Niederländer Frans Cornelis Donders, eigentlich Mediziner und Augenarzt, der bereits 1868 Experimente zur mentalen Chronometrie durchführte. Ihn beschäftigte die Frage, ob und wie man die Dauer psychischer Prozesse messen könnte: „Sollte nun auch der Gedanke nicht die unendliche Schnelligkeit haben, die man ihm zuzuschreiben pflegt, und sollte es möglich sein, die Zeit zu bestimmen, die zur Bildung einer Vorstellung oder einer Willensbestimmung gefordert wird?“ (Donders, 1868, S. 4) Er ging davon aus, dass komplexe Prozesse mehr Zeit brauchen als einfache Prozesse. Er entwickelte die Subtraktionsmethode, bei der die Zeit zwischen einem Reiz und einer Reaktion bei zwei Aufgaben gemessen und verglichen wird, die einander bis auf einen vermuteten Teilprozess vollkommen gleichen. Die Differenz zwischen den durchschnittlichen Reaktionszeiten wird als Zeitbedarf des Teilprozesses interpretiert.

      Eine chronometrische Methode ist für die Sprachverarbeitung ungemein wichtig: das PrimingPriming (to prime = vorbereiten, grundieren). Dabei wird die Reaktionszeit auf einen Zielreiz (Target) gemessen, dem ein Vorreiz (Prime) vorangeht. Der Prime beeinflusst die Reaktionszeit, sie wird schneller (facilitation) oder langsamer (inhibition). Mit Priming-Experimenten können Hypothesen zur Bahnung und Hemmung in konzeptuellen Netzenkonzeptuelles Netz überprüft werden. Unser Beispiel betrifft das Wortverstehen (zusammenfassend Neely, 1991).

      Als Aufgabe wird eine lexikalische Entscheidung verlangt: Ist ein dargebotenes Wort ein Wort der deutschen Sprache, ja oder nein? Vor dem Zielwort (target), auf das die Vp reagieren soll, wird ein Vorreiz (Prime) gezeigt. Z.B. wird einer Gruppe von Vpn im ersten Durchgang „Brot“ als Prime vorgegeben, danach soll „Arzt“ als Zielwort (target) beurteilt werden, die Reaktionszeit wird in Millisekunden gemessen. Einer zweiten Gruppe von Vpn wird „krank“ als Prime gegeben, bei ihr


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