Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt


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mein Gesprächspartner mich nicht verstehen kann, aus intellektuellen oder psychischen, aus kulturellen oder gesundheitlichen Gründen oder weil ihm einfach ein paar Informationen über mich fehlen? Was, wenn ich mein Gegenüber nicht verstehen will, weil mich kulturelle Vorurteile leiten, ich die Person nicht ausstehen kann oder sie dominieren will, weil mir der gute Wille zum Verstehen einfach fehlt?“ (Schulte, 2013). In der schwarzen RhetorikRhetorik wird sogar empfohlen, den Absender absichtlich misszuverstehen, z.B. empfiehlt Arthur Schopenhauer (2009, S. 61) diesen Kunstgriff: „Man erzwingt aus dem Satze des Gegners durch falsche Folgerungen und Verdrehung der Begriffe Sätze, die nicht darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind.“

      4.5 Texte verständlich machen

      Eine Verbesserung der schriftlichen Kommunikation ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen erwünscht, sie sind im Kapitel 1 aufgezählt. Da das 11. Kapitel ausführlich die Evaluation und Optimierung der Verständlichkeit behandelt, werden hier nur drei Szenarien angeführt. Wer die Verständlichkeit in der schriftlichen Kommunikation verbessern möchte, der kann an drei Komponenten der Kommunikation ansetzen: auf der Seite des Absenders, auf der Seite des Adressaten oder am Text selbst.

      SchreibtrainingSchreibtraining. Hier geht es um Schulung im adressatenorientierten und verständlichen Schreiben durch Handreichungen und Schreibwerkstätten, um die Schreibfähigkeiten von Autorinnen und Autoren zu verbessern. Dieser Ansatz ist in der Ausbildung für Berufe mit professioneller Vermittlungsfunktion unverzichtbar. Für einige Arbeitsfelder liegen Handreichungen (GuidelinesGuidelines) für verständliches Schreiben vor, z.B. für technische Dokumentation (Baumert & Verhein-Jarren, 2012), für journalistische Beiträge (Häusermann, 2005), für amtliche Schreiben (Brettschneider et al., 2012), für Public Relations (Ebert, 2014). Auch für die besonders schwierige Gruppe der Wissenschaftler gibt es Schreibanleitungen (Bünting, Bitterlich & Pospiech, 2004; Moll & Thielmann, 2017). Zusätzlich ist eine Unterstützung und Kontrolle des Schreibens durch elektronische Tools möglich, z.B. Style Checker, die auf die stilistischen Schwächen eines Autors eingestellt sind, etwa zu lange Sätze oder viele Passivsätze (dazu Kap. 12.5). Fernziel ist eine Workbench zum Schreiben, ein Softwarepaket, das „den Schreibaktivitäten und Gewohnheiten der jeweiligen TextschreiberInnen angepaßt ist bzw. anpaßbar ist“ (Rothkegel, 1995, S. 179).

      TextoptimierungTextoptimierung. Liegt bereits ein formulierter Text vor, kann seine Verständlichkeit für die Adressaten eingeschätzt werden. Dazu dienen Verfahren der Textevaluation, wie z.B. Verständlichkeitsformeln, Checklisten, Expertenratings oder Usability-Tests (ausführlich Kap. 11). Aufgrund der Ergebnisse überarbeitet der Autor oder ein Experte den Text, z.B. ein Wissenschaftsredakteur oder eine Lektorin. Der Text wird sozusagen an die Adressaten angepasst. Der Textexperte muss dabei den Text erst verstehen und eventuell interpretieren, bevor er eine verständlichere Formulierung vorschlagen kann. Dieses Szenario der Textoptimierung impliziert eine theoretische Voraussetzung: Es gibt synonyme Texte, derselbe Inhalt lässt sich in verschiedener sprachlicher Verpackung ausdrücken, so dass eine Variante durch die andere ohne semantischen Verlust substituiert werden kann. Diese Prämisse wird nicht nur von Sprachwissenschaftlern (z.B. Biere, 1989), sondern auch von der Translationstheorie zurückgewiesen. Jedes andere Wort oder jede andere Satzkonstruktion ist gegenüber dem Inhalt nicht neutral und hat einen Einfluss auf das Verstehen und Interpretieren. Eingriffe in den Text können das Verstehen erleichtern, aber auch die ursprüngliche Aussage des Textes verfälschen. Die meisten Richtlinien zur Textoptimierung empfehlen dennoch die Ersetzung eines Wortes oder eines Satzes durch einen anderen. Das ist die Ersetzungungstaktik, aber es gibt als Alternative die ErgänzungstaktikErgänzungstaktik. Dabei bleibt der Text unberührt, wird aber mit Erschließungshilfen flankiert, z.B. Vorstrukturierungen, Zusammenfassungen, Glossar (ausführlich Kapitel 9).

      Lese- und Verstehenstraining. Da Verständlichkeit kein alleiniges Merkmal des Textes ist, kann in der schriftlichen Kommunikation auch ein Beitrag des Adressaten eingefordert werden. Das beginnt damit, dass ihm zugemutet werden kann, eine Textpassage oder einen ganzen Text wiederholt zu lesen, wenn er sie bei der ersten Lektüre nicht verstanden hat. Denkt man dabei an die hermeneutische Spirale, ist das sogar eine Voraussetzung für tieferes Verstehen, denn das Verständnis des Ganzen wirkt auf das Verstehen der Teile zurück. Die aktive Auseinandersetzung mit einem Text kann zusätzlich durch Techniken der Aneignung gefördert werden. Bei diesem Ansatz werden die Verstehensfähigkeiten bzw. Lesekompetenzen der Adressaten trainiert, es geht um Techniken der Texterschließung (Schnotz & Ballstaedt, 1995). Hier werden nicht die Texte an die Adressaten, sondern die Adressaten an die Texte angepasst. Der Ansatz bei den Adressaten ist sinnvoll, wenn z.B. klassische Texte vorliegen, in die nicht durch TextoptimierungTextoptimierung eingegriffen werden darf. Das VorverständnisVorverständnis ist schwer zu verändern, aber es können Techniken eingeübt werden, die das Verstehen durch die bessere Nutzung von Ressourcen verbessern. Zu diesen Lese- und Lerntechniken gehören: Anstreichen, Gliedern, Exzerpieren, Zusammenfassen, Visualisieren, Fragen stellen, Beispiele suchen u. v. m. (Keller, 2005; Mandl & Friedrich, 2006). Die Wirkung derartiger Techniken ist empirisch erprobt, es bleibt allerdings aufwendig, sie durch Übungen zu vermitteln. Einzelne Techniken wurden zu LesestrategieprogrammenLernstrategieprogramm zusammengefasst, z.B. die PQ4R-Methode (Thomas & Robinson, 1972): Preview, Question, Read, Reflect, Recite, Review. Das Verstehen wissenschaftlicher Texte kann durch Training der metakognitiven Fähigkeiten gefördert werden, d.h. der Einschätzung der eigenen Verstehensleistung (Wiley & Sanchez, 2010). Analog zu den Schreibwerkstätten kann es Lesewerkstätten geben, wie z.B. Lektüreseminare in den Geisteswissenschaften. Eine Anleitung speziell zur Erschließung von Fachtexten hat Ulrike Langer (2013) vorgelegt.

      Zusammenfassung

      1. Schriftliche Kommunikation weicht in etlichen Merkmalen von der mündlichen Kommunikation ab: Die Kommunikationspartner sind räumlich und zeitlich getrennt, Schreiben ist reflektierter und führt zu komplexen Formulierungen, das fortlaufende Monitoring fällt aus und damit jede Technik der Verständnissicherung. Damit wird Verständlichkeit zum Problem, das vor allem in der Verantwortung des Absenders liegt, der adressatenorientiert formulieren muss.

      2. Nach dem kommunikativen Ansatz kann es eine Allgemeinverständlichkeit für alle Adressaten nicht geben. Für abgrenzbare Zielgruppen sind Texte gut adressierbar, ein Problem stellt die Mehrfachadressierung bei heterogenen Adressatengruppen dar.

      3. Professionelle Kommunikation muss von einer Adressatenanalyse ausgehen. Diese besteht aus zwei Stufen: Bei der Segmentierung werden die Adressatengruppen bestimmt, bei der Profilierung werden diese in verstehensrelevanten Merkmalen beschrieben.

      4. Zur Profilierung können etliche Merkmale der Adressaten herangezogen werden: sozio-ökonomischer Status, Lesemotivation, Vorwissen, Lesekompetenz, Sprachgebrauch, Mentalität, prozedurales Vorwissen. Für verständliches Schreiben sind vor allem das Vorwissen und die Sprachkompetenzen der Adressaten wichtig.

      5. Einige Adressatengruppen sind in den letzten Jahren besonders in den Fokus der professionellen Kommunikation gerückt: Senioren, Menschen mit Behinderungen, Menschen anderer Kulturen. Frauen als Adressatengruppe haben zu Bemühungen um geschlechtsneutrale Formulierungen geführt, für die derzeit Richtlinien entwickelt werden.

      6. Von den Adressaten schwieriger Texte wird in der hermeneutischen Tradition erwartet, dass sie einen Text wohlwollend zu verstehen suchen (hermeneutische Präsumptionen und principle of charity). Die Textproduzenten werden dadurch weitgehend von der Mühe um Verständlichkeit entlastet.

      7. Die hermeneutische Spirale beschreibt den Prozess des fortlaufenden Verstehens. Es startet mit einem Vorverständnis, das durch das Lesen bestätigt oder verändert wird. Psycholinguistik und Kognitionspsychologie haben diese text- und wissensbasierten Prozesse detailliert beschrieben.

      8. Ein völliges Unverständnis ist selten, da selbst in einer fremden Sprache noch paraverbale Zeichen für ein rudimentäres Verstehen sorgen. Missverständnisse, bei denen der Adressat etwas versteht, was der Absender aber nicht gemeint hat, sind hingegen oft zu finden. Ein erschwertes Verstehen erfordert viel Verarbeitungsaufwand, den nicht


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