Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit. Steffen-Peter Ballstaedt

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt


Скачать книгу
hat erhebliche Konsequenzen: Zugespitzt kann man sagen, dass Verständlichkeit erst in der schriftlichen Kommunikation zum Problem wird. Liegt Verständlichkeit in der mündlichen Kommunikation nicht allein in der Verantwortung des Sprechers, sondern auch des Adressaten, so verschiebt sich bei der schriftlichen Kommunikation die Verantwortung für Verständlichkeit deutlich auf den Schreibenden.

      Da das Lesen von Texten als eine der wichtigsten Kulturtechniken gepriesen wird, ist es interessant auch einmal eine andere Meinung zu hören, die des Neuropsychologen Ernst Pöppel (2009): Lesen ist in den Genen nicht vorgesehen, aber es wird durch die Gene möglich. Es ist eigentlich ein „Missbrauch des Gehirns“, der auf Kosten anderer, z.B. visueller KompetenzenKompetenz geht. Zudem führen geschriebene Wörter zu einer Verdinglichung von Konzepten und locken uns in eine „Sprachfalle“, da wir glauben, es gäbe so etwas wie die Intelligenz oder den Willen (oder die Verständlichkeit!). Das erinnert an den berühmten Satz von Ludwig Wittgenstein: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ (Wittgenstein 1967, S. 66).

      Schwer verständliche Texte gibt es auch schon in der mündlichen Rede, aber mit der Schriftlichkeit verschärft sich das Problem. Nicht immer sind Schreibende und Lesende kooperativ eingestellt und geben sich beim Formulieren und beim Lesen Mühe. Zudem ist SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit oft ein unerwünschter Nebeneffekt, da im Berufsalltag von Textproduzenten wie etwa Journalisten oder technischen Redakteuren durch Zeitdruck oder andere Belastungen ein sorgfältiges Formulieren erschwert wird (Jakobs, 2006).

      Ein besonderes Problem bilden die FachsprachenFachtext, Fachsprache, deren Ursprung in der Arbeitsteilung liegt (Fluck, 1996; Roelke, 2010; Adamzik, 2018): Bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie ursprünglich Bauern, Fischer, Schmiede, Seefahrer usw. entwickeln in der mündlichen Kommunikation eine Sprache mit eigenen Wörtern und Redewendungen, die die Kommunikation in der Berufsgruppe vereinfacht. Soziologisch gesehen grenzt eine Fachsprache nach außen ab und schafft einen Binnenraum der Verständigung. Man versteht sich untereinander prächtig und genießt den Distinktionsgewinn, aber nach außen entsteht eine Kommunikationsbarriere. Dies gilt erst recht für die Entstehung einer Fachliteratur, die in eine berufliche Kommunikation hineinsozialisiert. Beispiele sind die Fachsprachen der Psychoanalyse oder der Banker. Zum gesellschaftlichen Problem werden Fachsprachen, wenn es um Wissen geht, das für alle Mitglieder einer Gesellschaft relevant ist, z.B. in der Medizin, Technik oder Politik. Es entsteht das Ärgernis schwer verständlicher Experten-Laien-Kommunikation.

      Ein kooperativ eingestellter Autor muss sich Gedanken über seine Adressaten machen und sorgfältig formulieren, um ihnen keinen unnötigen Verarbeitungsaufwand aufzubürden. Der Adressat muss kognitive Ressourcen investieren, wenn er einen Text nicht automatisch versteht. ich beschreibe zuerst die kommunikativen Aufgaben des Absenders, dann diejenigen des Adressaten.

      4.2 Absender: AdressatenorientierungAdressatenorientierung

      „Der Adressat ist König“, so lautet das Mantra in allen Kommunikationsberufen. Für eine erfolgreiche Kommunikation wird die Adressatenorientierung immer wieder beschworen, aber sie ist ein Kernproblem des Schreibens geblieben (Lehrndorfer, 1999, 2013). Meist ist ein Autor bzw. eine Autorin so damit beschäftigt, das Wissen aus dem Kopf in passende Formulierungen zu bringen, dass die Lesenden dabei vergessen werden. Aber jede effektive MitteilungMitteilung muss auf ihre Adressaten ausgerichtet sein. Die Adressatenanalyse und das daraus folgende adressatengerechte Schreiben haben Vorläufer in der Rhetorik, werden aber vor allem zur Forderung in der Didaktik, um Texte für Lernende optimal zu gestalten. Im Bereich des Marketings, der Werbung oder Public Relations wird von Zielgruppen gesprochen.

      Gibt es eine AllgemeinverständlichkeitVerständlichkeitAllgemein-?

      Eine verbreitete Richtlinie lautet: Schreibe so einfach als möglich, dann verstehen alle AdressatenAdressat deine MitteilungMitteilung. So verlangt z.B. Wikipedia von seinen Autoren und Autorinnen allgemeinverständliche Texte. Nach dem vorgestellten Kommunikationsmodell kann es aber eine von Adressaten unabhängige Allgemeinverständlichkeit aus verschiedenen Gründen nicht geben.

      1. Das sprachliche Wissen ist nicht bei allen Sprechern einer Sprache identisch. So gibt es für das Deutsche zwar eine Standardsprache, die in einer präskriptiven Grammatik festgeschrieben und in der Schule gelehrt wird. Daneben existieren aber zahlreiche Varietäten: Dialekte, Soziolekte, Fachsprachen, Mediensprachen usw.

      2. Das VorverständnisVorverständnis, also Weltwissen, Erfahrungen, und die kognitiven Kompetenzen sind bei jedem Adressaten anders. Es gibt keine zwei identischen Köpfe und deshalb auch keine Verständlichkeit für alle.

      3. Komplexe inhaltliche Zusammenhänge sind allgemeinverständlich mit einfachen Wörtern und einfachen Sätzen schwer vermittelbar. Es gibt allerdings auch die Position, dass es allein eine Frage der Bemühung ist, auch komplexe Inhalte allgemeinverständlich zu formulieren.

      Das bedeutet: Optimale Verständlichkeit ist immer adressiert! Eine AllgemeinverständlichkeitVerständlichkeitAllgemein- kann es nicht geben. Wir kommen bei der Leichten Sprache noch einmal auf das Thema zurück (Kap. 11.3).

      SegmentierungSegmentierung der Adressaten

      Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, mit denen ein Schreibender bei seinen Adressaten rechnen kann:

      Eine abgrenzbare Adressatengruppe. Dies ist der Schokoladenfall, denn hier lässt sich ein recht klares Profil der Lesenden erstellen. Beispiele: Reparaturanleitung einer Waschmaschine für den Wartungsdienst oder ein Artikel für eine Fachzeitschrift.

      Mehrere abgrenzbare Gruppen. In der technischen Kommunikation ist dieser Fall nicht selten, zum Beispiel: Erstbenutzende und erfahrene Benutzende eines Geräts oder Laien und Experten. In diesem Fall gibt es zwei Möglichkeiten:

       Es werden zwei Versionen für die beiden Adressatengruppen geschrieben. Das ist arbeitsaufwendig und wird teuer.

       Der Text wird so aufgebaut, dass zwei Lesewege möglich sind. Individuelle Adressatenführung ist ein Vorteil bei hypertextuellen Online-Angeboten.

      Heterogene Adressatengruppe. Hier setzt sich das Publikum aus sehr unterschiedlichen Personen zusammen. Beispiele: Mit der Bedienungsanleitung für einen Mittelklassewagen muss ein großer Personenkreis umgehen können. Artikel für eine Zeitung müssen ebenfalls für verschiedene Lesergruppen mit unterschiedlichen Voraussetzungen verständlich sein. Viele massenmediale Kommunikate richten sich prinzipiell an heterogene Adressatengruppen. Diese sogenannte MehrfachadressierungMehrfachadressierung stellt eine kommunikative Herausforderung dar (Hoffmann, 1984). Folgende Möglichkeiten sind denkbar:

       Man richtet sich am untersten Niveau der Adressaten aus. Dabei geht man aber das Risiko ein, anspruchsvolle Lesende zu langweilen.

       Man kann versuchen, einen idealtypischen Durchschnittsadressaten, einen generalisierten Lesenden zu konstruieren. Dabei werden anspruchsvolle Lesende unterfordert und anspruchslose überfordert.

       Man bietet Erschließungshilfen für den Text an, z.B. Zusammenfassungen, ein Glossar, Bilder, Infografiken usw., die bei Bedarf freiwillig genutzt werden können (dazu Kap. 9.2).

       Man bietet in einem Dokument mehrere Lesewege an. Fortgeschrittene können bestimmte Kapitel überspringen. Für elektronische Texte ist ein Progressive Disclosure realisierbar. Zusätzliche Inhalte (Texte oder Bilder) sind zunächst verborgen und werden erst eingeblendet, wenn sie vom Nutzer aktiv abgerufen werden. So kann der Nutzer das Angebot an sein Vorwissen anpassen.

      ProfilierungProfilierung

      Das Bestimmen der Adressatengruppe ist nur die Vorstufe zur Analyse der Voraussetzungen, welche die Adressaten in die Kommunikationssituation einbringen. Wenn keine ausdrückliche ProfilierungProfilierung stattfindet, dann richtet sich der Absender nach dem ImageImage, das er von seinen Adressaten hat. Professionelle Kommunikation muss aber von einem abgesicherten Profil der Adressaten ausgehen. Man unterscheidet mehrere Gruppen von Variablen, die Aufnehmen, Verarbeiten und Nutzen eines Textes


Скачать книгу