Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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liegen seit einigen Jahren voll im Trend und es ist aufgrund kostengünstiger und schneller Erhebungsmethoden davon auszugehen, dass sie in Zukunft stark an Bedeutung gewinnen werden (Bryman 2008: 627–659).

      Die Fallauswahl hat im Bereich der qualitativen Sozialforschung eher experimentellen Charakter, sie beruht nicht auf einer Zufallsstichprobe, sondern der Forschende navigiert vor dem Hintergrund einer im Untersuchungsprozess allmählich entstehenden Systematik von Fall zu Fall. Das »theoretical sampling« (Glaser/Strauss 1967) setzt auf eine allmähliche Verdichtung der Fallauswahl durch einen iterativen Forschungsprozess, in dem die Forscherin beständig zwischen Datenerhebung, Auswertung und Typisierung oszilliert. Auf diese Weise tritt nach einiger Zeit eine Sättigung ein, d. h. neue Fälle führen zu keinen neuen Erkenntnissen mehr. Die Erhebungsphase endet, sobald die induktive Erweiterung oder abduktive Generierung einer Theorie über das untersuchte Feld gelungen ist.

      b) Datenanalyse

      Zur qualitativen Untersuchung von empirischem Material stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung: Grounded Theory, Objektive Hermeneutik, dokumentarische Methode, Diskursanalyse, Inhaltsanalyse, narrationsanalytische Biografieforschung, egozentrierte Netzwerkanalyse oder ethnomethodologische Konversationsanalyse (Strübing 2013, Lamnek 2005). Dabei hängt die Entscheidung für eine bestimmte Analysestrategie naturgemäß von dem verfügbaren Datenmaterial ab: Netzwerkanalysen sind auf relationale Beziehungsdaten angewiesen, Konversationsanalysen verlangen nach hochdifferenzierten Transkripten und die dokumentarische Methode benötigt für ihre Typisierungen möglichst kontrastreiche Fälle. Im Folgenden betrachten wir zwei der am häufigsten eingesetzten Analyseverfahren etwas genauer.

      [70]Die Grounded Theory geht auf das Buch »The Discovery of Grounded Theory« (1967) von Barney Glaser und Anselm Strauss zurück und wurde seitdem kontinuierlich weiterentwickelt (Strauss/Corbin 1990, Strauss 1991, Strübing 2008, Clarke 2004, Charmaz 2006). Sie ist kein reines Auswertungsverfahren, sondern ein pragmatistisch inspirierter Forschungsstil, welcher Einfluss auf das gesamte Design einer empirischen Untersuchung nimmt. Auf diese Weise wird ein vorurteilsarmer, kreativer, abduktiver und iterativer Forschungsprozess initiiert, der um eine zunächst explorative, später theoriegeladene Fallauswahl kreist. Die einzelnen Untersuchungsschritte werden parallelisiert, schon mit dem ersten ausgewählten Fall beginnt die Theoriebildung. Hinsichtlich des zulässigen Datenformats ist die Grounded Theory offen – möglich sind Texte, Interviews, Videos oder Beobachtungsprotokolle. Die wachsende Beliebtheit der Grounded Theory resultiert nicht zuletzt daraus, dass sie als flexible Plattform für gegenstandsnahe Studien verwendet werden kann. Im Umgang mit dem erhobenen Material setzt sie auf eine gemeinsame Analyse durch mehrere Interpreten, welche in drei Schritten erfolgt. Zunächst wird offen kodiert, d. h. der Datentext wird von den beteiligten Wissenschaftlern durch eine mikroskopische Line-by-Line-Analyse in seine Einzelteile zerlegt. Dabei werden verborgene Sinndimensionen aufgespürt, thematisch interessante Materialstücke ausgewählt und zentrale Konzepte separiert. Anschließend wird axial kodiert, d. h. durch den Vergleich kontrastreicher Fälle kommt es zur Erstellung erster Zusammenhangshypothesen und Theorie-Miniaturen. Hierfür werden einige Phänomene ausgewählt und auf ihre möglichen Ursachen und Konsequenzen befragt. Zum Abschluss der Interpretationsphase wird selektiv kodiert, d. h. nun beginnt die Suche nach der zentralen Schlüsselkategorie, mit der sich die einzelnen Theoreme und Konzepte aufeinander beziehen lassen, um auf diese Weise die erkenntnisleitende Forschungsfrage zu beantworten (vgl. dazu ausführlich: Strauss 1991: 94–114).

      Das zweite Interpretationsverfahren, das wir in seinen Grundzügen darlegen, ist die Narrationsanalyse (nach Schütze 1983, 1984). Sie kommt vor allem in der Biografieforschung zum Einsatz und nimmt ihren Ausgang von der detaillierten Transkription eines narrativen Interviews, das eine geschlossene Haupterzählung, einen Vertiefungsteil und einen argumentativ angelegten Nachfrageteil aufweist. In einem ersten Arbeitsschritt wird das Material einer formalsprachlichen Analyse unterzogen, um auf diese Weise erzählende von argumentativen und beschreibenden Passagen zu trennen. Von hier aus erfolgt eine strukturelle Beschreibung, bei der die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Erzählsegmenten herausgearbeitet werden. Die analytische Abstraktion identifiziert daraufhin wiederkehrende Muster und Gestaltungsroutinen innerhalb der untersuchten Biografie. Die Wissensanalyse erforscht, auf welche Strategien der Identitätsbehauptung die Erzählperson bei der Darlegung ihrer Biografie zurückgreift. Dazu gehören Techniken der Verdrängung, Legitimierung oder Umdeutung. Nach Schütze kann die Einzelfallanalyse durch kontrastive Vergleiche angereichert werden. Dabei werden zunächst minimale Vergleiche zu ähnlichen Fälle angestellt, später dann maximale Vergleiche mit Fällen, deren Verlaufstypik signifikant vom Ausgangsfall abweicht. Die Vergleichsarbeit mündet in die Konstruktion von Theorien ein, die Prozessmodelle für typische Lebensläufe oder einzelne Lebensphasen bereitstellen (Strübing 2013: 153–161). Narrationsanalysen machen sich dabei drei »Zugzwänge des Stegreiferzählens« zunutze (Schütze 1984: 81). Der »Detaillierungszwang« evoziert die chronologische Benennung wichtiger Schauplätze und Lebensereignisse und befördert die sinnhafte Verknüpfung einzelner Episoden. Besonders detailreich ausbuchstabierte Sequenzen verweisen die Narrationsanalytiker auf biografische Höhe- oder Wendepunkte. Der »Gestaltschließungszwang« führt dazu, dass angekündigte oder begonnene Erzählteile in der Regel vollendet werden, selbst wenn sie Erlebnisse betreffen, die die Erzählperson eigentlich nicht zur Sprache bringen wollte. Auf diese Weise treten auch dramatische Ereignisse und konstitutive [71]Misserfolge hervor. Der »Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang« besteht schließlich darin, dass die Erzählperson aufgrund eines endlichen Zeitbudgets narrative Schwerpunkte bei der Schilderung ihrer Lebensgeschichte setzen muss. Auf diese Weise werden narrationsanalytische Rückschlüsse auf die Relevanzstrukturen des Befragten möglich. Die Biografieforschung geht keineswegs davon aus, dass die abgerufene Erzählung mit dem gelebten Leben vollkommen übereinstimmt. Sie arbeitet stattdessen mit der konstruktivistischen Annahme, dass sich die mentale Repräsentation und Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte aufgrund der beschriebenen Zugzwänge des Interviews in der Erzählung niederschlagen (Küsters 2006: 33).

      c) Theoriebezüge

      Ausgangspunkt einer qualitativen Untersuchung sind nicht gegenstandsbezogene Theorien, sondern abstrakte Metatheorien, welche die Wahl der Methoden und Techniken präjudizieren. Hinsichtlich der metatheoretischen Rahmung qualitativer Studien lassen sich verschiedene Einflüsse dokumentieren. Dazu gehören vor allem Pragmatismus (John Dewey, Charles S. Peirce), symbolischer Interaktionismus (George Herbert Mead, Herbert Blumer), Wissenssoziologie und Konstruktivismus (Peter L. Berger, Thomas Luckmann), Phänomenologie und Hermeneutik (Alfred Schütz), Poststrukturalismus (Michel Foucault) und Akteur-Netzwerk-Theorie (Bruno Latour, Annemarie Mol, John Law). Je nach gewählter Theorieoptik wird ein anderes Verhältnis von Struktur und Handlung induziert. Dies hat Folgen für die Auswahl und Analyse des empirischen Materials. Während die Grounded Theory eher beim Akteur ansetzt, konzentrieren sich diskursanalytische oder objektiv hermeneutische Verfahren auf konstitutive Mechanismen und Dispositive auf der Strukturebene.

      Ein gemeinsamer Wesenszug aller qualitativen Verfahren besteht darin, dass sie gegenstandsbezogene Theorien nicht im Sinne des quantitativen Paradigmas anwenden oder testen, sondern induktiv weiterentwickeln oder abduktiv generieren wollen (Kalthoff 2008: 21). Theorien gehen der empirischen Forschung nicht voraus, sondern bilden sich in der verstehenden Auseinandersetzung mit dem gesammelten Material. Qualitative Studien können daher auch als Experimente mit offenem Ausgang bezeichnet werden. Sie basieren nicht auf maßgeschneiderten Theorien oder eindeutigen Durchführungsbestimmungen und sie lassen sich von der Dynamik weitgehend unerforschter Materien affizieren. Der Schlüssel zur angestrebten Generalisierung der Befunde liegt in der komparativen Analyse komplexer Fallstrukturen, aus denen empirisch gesättigte Idealtypen und Typologien gebildet werden.

2.3Qualitative und quantitative Methoden im Vergleich

      Als Zwischenfazit der bisherigen Darstellung gibt Abbildung 1 einen Überblick über die herausgearbeiteten Differenzen zwischen den beiden Methodensträngen. Die Rekonstruktion hat gezeigt, dass die Zielsetzung ähnlich ist: Sowohl quantitative als auch qualitative Studien generalisieren fallspezifische Befunde, um auf diese Weise soziale Regeln, Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Meinungsverschiedenheiten gibt es jedoch


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