Ingenieurholzbau. Werner Seim
die man bisher nicht zu den klassischen Holzbaunationen zählt.
Bei einer solchen Innovationsgeschwindigkeit können normative Regeln zur Bemessung von Tragelementen und Verbindungen nicht immer Schritt halten. Sie müssen es auch nicht, wenn Ingenieurinnen und Ingenieure mit den allgemeinen Berechnungsmethoden gut vertraut sind und mit den Grundlagen, auf denen diese Methoden aufbauen. Auf dieser Basis können auch neue, auf den ersten Blick ungewohnte Regelungen zu einzelnen Produkten eingeordnet und sicher interpretiert werden. Und bereits beim Tragwerksentwurf können innovative Produkte für neuartige Lösungen vorgeschlagen werden.
In diesem Sinn bilden im vorliegenden zweiten Band ,,Ingenieurholzbau – Vertiefung“ das erste Kapitel zu den theoretischen Grundlagen und das fünfte Kapitel zum Tragwerksentwurf eine Klammer für das zweite und dritte Kapitel, in denen Berechnungsmethoden für Tragelemente und Verbindungen vorgestellt und erläutert werden, welche im ersten Band ,,Ingenieur-Holzbau – Basiswissen“ keinen Platz mehr fanden. Wichtige Schwerpunktthemen sind Verbundbauteile sowie geklebte und formschlüssige Verbindungen. Ein eigenes Kapitel ist der Schwingungsberechnung und der Erdbebenbemessung gewidmet. Die einzelnen Kapitel sind inhaltlich eigenständig strukturiert. Man muss das Buch nicht von vorne nach hinten durcharbeiten, sondern kann, wenn man möchte, mit demjenigen Thema einsteigen, welches einen am meisten interessiert.
Der Inhalt des Buches deckt sich weitgehend mit den Inhalten der ,,Holzbau-Vertiefung“ im Masterstudiengang Bauingenieurwesen an der Universität Kassel und baut auf den Vorlesungsunterlagen auf, welche in den vergangenen Jahren dort am Fachgebiet Bauwerkserhaltung und Holzbau erarbeitet wurden. Carsten Pörtner, Martin Schäfers, Heiko Koch, Lars Eisenhut, Tobias Vogt, Johannes Hummel, Michael Schick, Timo Claus, Sascha Schwendner, Giuseppe D’Arenzo und Jens Frohnmüller haben in dieser Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiter ganz wesentlich zur Entwicklung unseres Lehrkonzeptes beigetragen. Bianca Böhmer hat für die Inhalte des zweiten Bandes eine Vielzahl handschriftlicher Notizen in Textform gebracht. Ai Phien Ho und Ann-Katrin Westermann haben sich als studentische Mitarbeiterinnen mit großer Sorgfalt um eine gute und einheitliche grafische Darstellung gekümmert. Wichtige Hinweise zum Abschnitt Brücken gehen auf Matthias Gerold zurück. Bei allen möchte ich mich sehr herzlich bedanken.
Mein besonderer Dank gilt Johannes Hummel, der die Herausgabe der gedruckten Vorlesungsmanuskripte, auf denen dieser Band beruht, betreut und das vierte Kapitel mit verfasst hat.
Kassel, im September 2021
Werner Seim
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Theoretische Grundlagen
Es ist immer wieder erstaunlich, wie elegant und ökonomisch Holztragwerke konzipiert und umgesetzt werden können. Und das bei einem Werkstoff, der den Wachstumsbedingungen in der Natur unterliegt und dadurch erhebliche Unregelmäßigkeiten und ausgeprägte anisotrope Festigkeitseigenschaften aufweist. Die ingenieurtechnische Beherrschung dieser Besonderheiten erfolgt auf der Grundlage von ganz unterschiedlichen theoretischen Ansätzen. Diese stammen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und wurden für die Fragestellungen des Holzbaus adaptiert. Bei manchen Bemessungsregeln – so z. B. bei den sogenannten ,,Johansen- Formeln“ – sind diese Grundlagen gut nachvollziehbar. Andere normative Regelungen verwenden Formulierungen mit dimensionsgebundenen Beiwerten, deren Herleitung ohne aufwendige Recherche nicht mehr nachvollziehbar ist. In den folgenden Abschnitten werden die wichtigsten theoretischen Grundlagen, welche bei gewöhnlichen Bemessungsaufgaben im Holzbau eine Rolle spielen, erläutert und es wird die Anwendung mit Bezug zum jeweiligen Ingenieurmodell erklärt.
1.1 Festigkeiten und Maßstabseffekt
Die Festigkeiten des Holzes hängen von der Dichte, von der Faserstruktur und von den wuchsbedingten Unregelmäßigkeiten ab. Eine besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die Äste. Dieser Einfluss wiederum hängt von der Art der Belastung ab: Bei Zug wird der Ast zur Fehlstelle, bei Druck wird der lineare Lastfiuss gestört (siehe Band 1, Abschn. 1.2.2). Bei einer Biegebeanspruchung, wo nun gleichzeitig Druck- und Zugspannungen auftreten, hängt der Einfluss eines Astes nicht nur von dessen Größe, sondern ganz entscheidend von seiner Lage ab. Dies wird in Abb. 1.1 veranschaulicht: Aufgrund der Äste ist die Zugtragfähigkeit des Kantholzes im Vergleich zu einer ungestörten, astfreien Probe erheblich reduziert, und zwar mehr oder weniger unabhängig von der Lage des Astes. Im Gegensatz dazu haben Äste nur dann einen Einfluss auf die Biegetragfähigkeit, wenn diese im Bereich des maximalen Biegemoments am zugbeanspruchten Rand liegen. Das ist eine Situation, die eher selten auftritt. Zusätzlich und unabhängig von diesen statistischen Betrachtungen ist auf der Druckseite des biegebeanspruchten Querschnitts ein gewisser Plastifizierungseffekt möglich.
Abb. 1.1 Kantholz mit Ästen: (a) zugbeansprucht, (b) biegebeansprucht und (c) Spannungsverlauf zur Biegebeanspruchung.
Abb. 1.2 (a) Statistische Verteilung unterschiedlicher Festigkeiten von Nadelholz nach Hansson und Thelandersson (2003) und (b) Zugstab mit n Teilabschnitten gleicher Länge.
Die Biegefestigkeit des Holzes ist somit ein eigenständiger Materialkennwert, der höher liegt als die Zugfestigkeit. Dies konnte in der Vergangenheit durch umfangreiche statistische Auswertungen von Versuchen unter Druck-, Zug- und Biegebeanspruchung gezeigt werden (siehe Abb. 1.2a) und spiegelt sich in den normativen Regelungen wider.
Bei der Festlegung von Zug- und Biegefestigkeiten spielt die statistische Verteilung der Äste als Fehlstellen eine entscheidende Rolle. Das betrifft sowohl die Größe des einzelnen Astes als auch seine Lage bezogen auf die Länge des Trägers und die Querschnittshöhe. Zur Beschreibung dieser Effekte wird gerne eine auf Waloddi Weibull (1887–1979) zurückgehende Formulierung verwendet, die auf der Theorie des schwächsten Gliedes einer Kette aufbaut. Diese Betrachtungsweise ist für spröde Versagensarten naheliegend. Abbildung 1.2b veranschaulicht dies für einen Zugstab. Geht man davon aus, dass die Versagenswahrscheinlichkeit für jeden Teilabschnitt i durch dieselbe Verteilungsfunktion F(σ) des Festigkeitswertes σ bestimmt wird:
(1.1)
dann ist die Überlebenswahrscheinlichkeit:
(1.2)
Die Überlebenswahrscheinlichkeit des Stabes mit n Teilabschnitten ist das Produkt der Überlebenswahrscheinlichkeiten der einzelnen Abschnitte:
(1.3)
(1.4)
Somit ergibt sich die Versagenswahrscheinlichkeit des Stabes zu
(1.5)
Da die Werte F(σ) sehr klein sind, kann der Ausdruck vereinfacht werden zu
(1.6)