Das Leben ist ein Abenteuer. Hans-Peter Vogt
2.
Papa und Théra waren schon da. Mama und Théra machten eine Kleinigkeit zum Essen, dann schalteten sie das Radio und den Recorder mit Wassergeräusch ein, und sie begannen ihre Abstimmung über die Aktionen der heutigen Nacht.
Théra hatte sich das Szenario ausgedacht. Es war eine blutige Lösung. Sie weihte Nils ein. Nils pfiff durch die Zähne. Der Plan war genial.
Es war nicht, worüber Papa mit ihm gesprochen hatte. Nicht diese elegante Lösung, die Papa vorschwebte, aber es war dennoch genial.
„Und die Ethik“, wagte er zu fragen. „Die ist mir in diesem Fall wurscht“, meinte Théra. „Wir bringen nur eine Lawine ins Rollen. Wir werfen sozusagen den ersten Stein.“
Auch Laura staunte. „Wenn das klappt, dann haben wir hier ein Problem weniger, aber Nils kriegt viel Arbeit, um die Gruppen in den nächsten Wochen zu beobachten.“
Nils seufzte. „Ja ja. Ich mach das schon. Ihr könnt euch auf mich verlassen.“ Dann sah er auf die Uhr. „Ich muss noch mal weg.“
Théra sah ihn mit zusammengekniffenen Augenbrauen an, dann lächelte sie. Sie hatte in ihren Bruder hineingesehen. Nils war verliebt. Er wusste es vielleicht noch nicht, aber Théra wusste es.
„Wenn wir das heute Nacht durchziehen, dann solltest du am Abend zwei oder drei Stunden schlafen. Kriegst du das hin?“
Nils nickte, dann zog er die Tür hinter sich zu und ging hinunter zu Aysa.
3.
„Da war ein Mädchen für dich da“, meinte Aysa. „Sie war in Begleitung von zwei anderen Schönheiten. Ich habe sie in Raum 338 geschickt.“ Sie lächelte. „Nun geh schon, lass sie nicht warten.“
Als Nils den Probenraum betrat, staunte er nicht schlecht.
Die Gruppe „Elan“ war noch jung. Sie hatten eine Leadsängerin, die etwas älter war. Heute fehlte sie jedoch. Die Gruppe spielte einen bekannten Coversong. Cindy stand am Mikrophon und sie aß das Mikro geradezu auf.
Sie flötete und wisperte, sie schrie und juchzte, sie hatte eine Granatenstimme. Nils blieb wie angewurzelt stehen und hörte sich das an. Wie war das möglich? Die Gruppe war noch unbekannt, dennoch stand Cindy da vorn, als hätte sie schon seit Wochen mit der Band geprobt. Vieles war nicht perfekt. Manchmal verpatzte sie ihren Einsatz, aber Cindy war genial. Das sah Nils sofort.
Niemand hatte bemerkt, dass er hereingekommen war. Er lehnte sich an die Wand und hörte zu. Irgendwann in der Mitte des Stücks machte Joe eine Pause. Der Gittarrist sprach mit Cindy und gab ihr ein paar Tipps. „Los, probieren wir es.“ Der Basist begann, der Drummer klinkte sich ein und Joe gab Cindy ein Zeichen, er stellte sich vor sie hin, und dirigierte sie mit den Händen, wie ein Dirigent, Einsätze, Gefühl, und jetzt lass die Sau raus, schien er zu sagen. Cindy schrie sich die Stimme aus dem Leib.
„Mann“, dachte Nils. „Die ist dreizehn. Das ist voll krass.“
Er war so konzentriert, dass er gar nicht mitbekam, dass sich plötzlich eine Hand in seinen Arm schob. Dann merkte er das warme angenehme Gefühl. Er sah zur Seite. Es war Helen. Er legte den rechten Arm um sie, dann suchte er mit der Linken ihre Hand und drückte sie leicht an sich.
Er wusste nichts von diesem Mädchen. Sie wusste nichts von ihm, aber es hatte gefunkt. Er konnte sich das nicht erklären. Er lehnte dort an der Rückwand des Raums. Helen führte seine Hand leicht an ihre Brust. Sie war voll und weich. Nils schloss die Augen. Er atmete die Musik und die leichte Berührung.
Dann ging die Tür auf. Carola kam rein. Sie stockte, dann machte sie das große Licht an. Die Musik erstarb. „Hey, was’n das. Ihr seid wohl meschugge.“ Sie stürmte auf die Bühne und zerrte Cindy vom Mikro weg. „Raus hier, das ist meine Veranstaltung.“
Nils machte sich von Helen los, er ging auf Carola zu und versuchte sie zu beruhigen, aber Carola war nicht zu beruhigen.
Nils zuckte schließlich mit den Schultern, er sah die drei Mädchen an, die völlig betroffen waren, dann gab er ihnen einen Wink. „Kommt.“
Cindy, die Cindy, die sonst so stark schien, war plötzlich nur noch Rotz und Wasser. Sie hatte es doch nur gut gemeint. Sie hatte ausgeholfen. Sie hatte sich gefreut, ihrer Stimme einmal den vollen Lauf zu lassen. Die Freundinnen hatten Cindy in den Armen und trosteten sie.
Nils berührte Helen leicht an der Schulter. „Kommt mal mit. Das ist alles sehr bedauerlich. Es tut mir leid. Cindy hat das nicht verdient.“ Dann führte er die drei Mädchen in eins der andern Häuser und öffnete die Tür zu einem Probenraum. Die Musik knallte ihnen entgegen. Das war knüppelharter Rock.
Die Gruppe spielte bisher instrumental. Sie hätten gern einen Leadsänger oder eine Sängerin gehabt, aber sie hatten noch nicht das Passende gefunden. Sie waren um vieles besser als „Elan“ und Nils wusste, dass sie schon einige Stücke für Stimme geschrieben hatten. Wo keine Stimme war, konnte man keine einsetzen.
„Jungs“, sagte Nils beim eintreten, und zog den Stecker. „Verzeiht mir den Interruptus. Ich möchte euch jemand vorstellen. Das sind Cindy, Helen und Lara. Von Helen und Lara weißích nichts. Cindy hab ich grade singen gehört, ihr habt da doch dieses Stück, „Leben um zu lieben“ oder wie das heißt. Habt ihr die Noten da?“ Sven nickte. „Klar doch.“
Nils gab Cindy die Noten. „Hier wird dir das nicht noch mal passieren, was du gerade erlebt hast. Sieh dir mal die Noten an - du kannst doch Noten lesen?“ Cindy sah Nils an, als hätte er sie nicht alle. Dann sah sie sich das Notenblatt an und fing leicht an zu summen. Sie fing noch mal an. Lara ging zu ihr und summte mit, dann begann Cindy von vorn. Lara summte die Grundmelodie. Cindy bildete Worte, sie fing an zu nuancieren. Leise noch, aber dann gab sie den Musikern einen Wink. „Könnt ihr mich etwas begleiten? Ich möchte das noch mal versuchen.“ Sie probierten das drei-viermal. Cindy wurde immer besser. Die Töne kamen jetzt ziemlich klar. Diese Cindy hatte ein unglaubliches Stimmvolumen.
Helen hatte sich wieder bei Nils eingehakt. Sie verfolgten die Entwicklung. Nils staunte. „Woher kann Cindy das“, fragte er. „Ihre Mutter war Sängerin. Sie hat ihre Eltern aber bei einem Autounfall verloren. Cindy lebt jetzt seit sechs Jahren bei uns. Die Musik hilft ihr, das Erlebte zu verarbeiten.“
Nils staunte.
Das Stück war gerade wieder um. Sven hielt die Hand hoch und sah dann zu seinen Freunden. „Schon mal aufgetreten“, fragte er. Cindy nickte. „Hast du Zeit? Willst du in den nächsten Wochen mit uns proben?“ Dann fragte er unvermittelt. „Wie alt bist du eigentlich?“
Cindy senkte den Kopf. „Dreizehn.“ Sven schnaufte. Seine Truppe war fünf jahre älter. Sie waren local heroes - lokale Größen, sie hatten sich in Berlin und Brandenburg schon einen Namen gemacht, aber dieses Mädchen schien ein Naturtalent zu sein.
Sven wandte sich an Nils. „Hast du was dagegen, wenn Cindy mit uns probt?“ Nils schüttelte den Kopf. Das ist eure Sache. Deine und Cindys. Ihr entscheidet das.“
Sven wandte sich an Cindy. „Willst du? Cindy drehte sich glückselig zu ihren Freundinnen um und sah zwei fröhliche und zustimmende Gesichter. Dann fragte sie zurück. „Könnt ihr auch Lara gebrauchen? Als Backgroundsängerin? Sie macht das wirklich gut.“
Sven nickte. „Versuchen wir es.“
Dann gaben sie Cindy ein anderes Notenblatt. „Wenn du Zeit hast, dann versuchen wir mal das nächste Stück. Da ist sogar Background angesagt.“
Nils Handy klingelte. Er sah kurz auf das Display, tippte mehrere Tasten und steckte es wieder ein. „Ich muss weg. Ihr kriegt das hier alleine hin. Die Mädels sind in unserem Haus noch neu. Betreut sie ein bisschen, führt sie ein bisschen herum, ja?“
Zu