Das Leben ist ein Abenteuer. Hans-Peter Vogt
war völlig verdattert. Von diesen Kräften hatte sie keine Ahnung gehabt. Jetzt stand sie plötzlich mit Nils in diesem Appartement. Sie hatte gespürt, wie sie quasi durch einen Tunnel geflogen war. Eine eigenartige Wärme hatte sie umfangen. Sie begann zu zittern.
„Ist schon gut“, beruhigte Nils. „Hast du schon mal ‚ne Wunde versorgt?“ Ellen nickte und Nils holte den Erstehilfekasten. Das Messer war durch die leichte Jacke gegangen, die Nils trug. Er zog sie jetzt aus. Die Wunde sah wirklich schlimm aus. Ein ekelhaft tiefer, klaffender Schnitt, der bereits angefangen hatte heftig zu bluten wie ein pulsierender Quell. Es war immer so, sobald der erste Wundschock vorbei war.
Nils zog die Kappe vom Desinfektionsspray, schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und sprühte los.
„Ooaargh“, tat das höllisch weh. Die Tränen schossen ihm aus den Augen. Jetzt fing das Blut erst richtig an zu laufen.
Ellen hatte das schon ein paar Mal gemacht. Sie hatte wirklich Übung. In der Packung gab es Wundklammern und Nadel und Faden. Sie nahm Nils die Dose aus der Hand, desifizierte sich die Hände, wischte das Blut mit einem Handtuch oberflächlich weg, und sprühte noch mal gründlich auf und in die Wunde.
Nils stöhnte und verdrehte die Augen. Jetzt kam ihm das autogene Training zugute. Er fing an zu summen, dann fiel er langsam in eine Art Trancezustand.
Ellen brachte die Wundklammern auf, legte eine dicke Schicht Mull darüber und begann den Verband darum zu wickeln. Das hätte eigentlich fachgerecht versorgt und dann vernäht werden müssen. Hoffentlich gab das keinen Wundbrand. Nils summte und sang leise vor sich hin. Er schien überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, was Ellen da machte.
Als die Pflaster den Verband endgültig fixierten, sah sich Ellen um. Das war ja eine niedliche kleine Wohnung. Dann holte sie ein Handtuch und wischte das Blut vom Parkettboden. Es hatte eine ziemliche Sauerei gegeben. Sie sah an sich herunter. Auch ihre Kleidung war voller Blut. „Scheiße.“
Nils summte immer noch. Ellen hob ihn leicht an und Nils schien in sich zusammenzusacken, dann nahm sie ihn in beide Arme und trug ihn zum Bett.
Sie legte sich dazu und nun begann sie Teil eines Prozesses zu werden, der ihr zukünftiges Leben bestimmen würde.
Um Nils und Ellen wob sich ein Feuer. Wie eine elektrostatische Entladung. Ein Ball aus feingeäderten Blitzen. Sie versuchte, den Arm herauszustrecken und aufzustehen. Es ging nicht. Sie war mit Nils in dieser Kugel gefangen.
Ellen seufzte. Erst dieser seltsame Sprung in dieses Appartement, dann diese Leuchtkugel. Sie verstand die Welt nicht mehr. Dann begann sie auf das leichte Gesumm zu achten, das immer noch aus Nils strömte. Er bewegte die Lippen nicht. Diese Klänge entströmten seinem Kopf, seinem Körper, sie waren einfach da, und nun wurde Ellen in diese Klänge eingewebt. Es kam ihr vor, als würde plötzlich ein dunkelhaariges Mädchen vor ihr stehen, vielleicht 20 Jahre alt, sie konnte das schlecht einschätzen. Das Mädchen breitete die Hände über die Leuchtkugel, es knisterte. Ellen wurde ganz tranig im Kopf und sie schlief ein.
Sie wusste nicht, wann sie aufwachte. Es war noch hell. Die Leuchtkugel und das Mädchen waren verschwunden. Sie sah auf ihrer Uhr, dass es neun war. Sie sah zu Nils und berührte ihn leicht am Hals, wie um seinen Puls zu fühlen.
Nils legte plötzlich die Hand um ihren Hals und zog sie leicht zu sich herunter. Ihr Kopf lag neben Nils und sie spürte seinen warmen Atem. Sie spürte auch sein „Danke“, das er unausgesprochen formulierte. Dann wanderte Nils Finger leicht über ihren Hals.
Ellen war keine Jungfrau mehr. Sie wusste, wohin das jetzt führt und sie war nicht bereit dazu. Sie richtete sich halb auf und sah Nils an.
Nils lächelte. Dann schlug er die Augen auf und sah sie direkt an. „Du kannst den Verband jetzt abnehmen.“
Ellen schüttelte den Kopf. „Wieso das? Die Wunde fängt dann sofort wieder an zu bluten.“ Nils summte und setzte sich auf.
Ellen gehorchte. Sie wusste nicht, warum sie das tat. Es war, wie eine Art innerer Antrieb. Sie tat, was Nils ihr befahl.
Der Verband war völlig durchnäßt, aber es gab keine Wunde mehr. Sie nahm die Klammern ab und sah eine 3x sechs Zentimeter lange wulstige Narbe in V-Form. Der Arm sah auf den ersten Blick aus, als habe es dort nie einen frischen Messerstich gegeben. Ellen blieb der Mund offen stehen.
Sie sah Nils an, diesen Nils, der immer noch summte. Dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie über dieses Ereignis nicht sprechen würde. Mit niemandem. Nils wusste es. Sie wusste es. Es war ein Geheimnis zwischen den beiden.
Plötzlich schlang Ellen Nils die Hände um den Hals und begann zu weinen. Der Schock saß einfach zu tief. Nils summte immer noch. Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest.
„Morgen“, sagte er tröstend, „morgen können wir unseren Waldlauf machen.“
Ellen nickte und weinte immer noch. Sie war hart im nehmen, aber das war zuviel gewesen. Sie blieb über Nacht bei Nils. Es war jetzt ihr Wille. Sie merkte, dass es für Nils das erste mal war. Sie zeigte ihm ein paar Tricks. Sie zeigte ihm vor allem, dass er mit ihr behutsam sein musste.
Am nächsten Morgen wachten sie zusammen auf. Nils fragte: „sind wir noch Freunde?“
Ellen nickte. Sie war älter als Nils. In diesem Alter sind zwei Jahre sehr viel. Sie würden heute Nachmittag zusammen Waldlauf machen. Sie waren sich zu nichts verpflichtet.
Nils Handy hatte am Abend ein paar mal geklingelt. Er war nicht rangegangen.
7.
Dann gingen sie in die Schule, wie immer. Nils gab ihr ein neues T-shirt und eine Leggins, die er im Schrank fand. „Von meiner Schwester“, sagte er. Mit den blutverschmierten Sachen konnte er sie schlecht in die Schule gehen lassen.
Als Nils in die Schule kam, wurde er von Tina angemacht. „Ich hab dich gestern ein paar mal angerufen. Wo warst du?“ Nils hob entschuldigend die Hände. „Hab das Handy zum Aufladen gahabt. Sorry. Jetzt bin ich ja wieder da.“ Er grinste.
„Was’n das?“ Tina fasste in den blutigen Schlitz in der Windjacke. „Nils schaute an seinem Arm hinunter. „Ach so. Bin ich an Stacheldraht hängengeblieben. Muss ich wohl ausmustern.“
An diesem Morgen wurde überraschend eine Mathearbeit geschrieben und Nils war froh, dass er etwas abgelenkt wurde.
Nach der Schule ging er hinüber in seine kleine Wohnung, schlug sich ein Ei in die Pfanne und aß ein paar Sauergurken und Cracker dazu, dann klingelte es und Ellen holte ihn zum Training ab.
Als sie zur U-Bahn kamen, lasen sie die Schlagzeilen der Berliner Boulevarpresse. „Wieder Schlägerei in der U-Bahn. Opfer verletzt - Blutspur führt in U-Bahnschacht“. Nils zog sich eine Zeitung und las. Blutspur führt U-Bahnschacht? Das klang ja nicht gut. Sie waren der Blutspur gefolgt. Nach dreissig Metern hörte sie plötzlich auf. Sie hatten die Umgebung abgesucht, aber der Verletzte war im Nirgendwo verschwunden. Es gab in diesem Abschnitt keinen Quergang, keine Schächte von oben. Der Verletzte konnte nirgendwo hin. Er hatte sich in Luft aufgelöst. Die Zeugen in der U-Bahn hatten ihre Aussage gemacht. Vier italienische Jugendliche waren festgenommen worden, die man zusammengeschlagen in der U-Bahn aufgelesen hatte. Die Beschreibungen der Zeugen waren nichtssagend. Man würde Nils und Ellen auf diese Weise nie finden.
Nils gab Ellen die Zeitung. „Es gibt schon seltsame Dinge in der Welt“, sagte er todernst.
Ellen musste sich das Lachen mühsam verkneifen. Sie sah, dass Nils jetzt eine andere Jacke anhatte. Er war vorsichtig gewesen.
Im Grunewald begannen sie ihre Tour. Ellen staunte wieder. Sie hatte Nils gestern gesehen. Die Verletzung war wirklich heftig gewesen. Das Messer war bestimmt bis auf den Knochen gegangen und hatte den Oberarmmuskel komplett durchgetrennt.