Terrafutura. Carlo Petrini

Terrafutura - Carlo Petrini


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mit all seinen offenkundigen Widersprüchen, basiert. Dabei zeigt sich, dass der Grund für die Perversion gewisser wirksamer Mechanismen in einer rein ökonomischen und ökonomistischen Konzeption von Fortschritt zu suchen ist, der – ebenso weltfremd wie verantwortungslos – als ein geradliniger, gleichsam automatischer und per se aufklärerischer Prozess betrachtet wird. Das trifft nicht zu. Und die aktuelle Pandemie liefert uns dafür einmal mehr den Beweis.

      Was sind die Wurzeln des irrsinnigen Wettlaufs um einen derart entmenschlichenden Fortschritt? Alle Errungenschaften der Wissenschaften und der Technik werden sofort in den Dienst politischer Machterweiterung und Machtkonsolidierung gestellt. So gelangt man zu einem ausschließlich quantitativen Verständnis von Wachstum, ohne der Beschränktheit der Ressourcen Rechnung zu tragen und unter Missachtung jener Qualitäten, die sich aus dem eigentlichen Ziel – einer wahrhaft menschlichen Entwicklung – ergeben. Ganz anders steht es um die Kultur anderer, vielleicht gar archaischerer Lebenswelten, in denen das Leitelement nicht einfach Wachstum, sondern Gleichgewicht ist und sich das Verhältnis Mensch-Natur völlig anders darstellt. Es sind die abendländischen Gesellschaften, in denen eine Dichotomie zwischen Kultur und Natur, zwischen Bewusstsein und Lebensraum geschaffen wird. Diese Dichotomie führt zu einer gänzlich instrumentellen Sicht auf die Natur, die als externes Objekt betrachtet wird, über das der Mensch seine uneingeschränkte Herrschaft ausüben kann, statt sie als Lebensraum und Ökosystem, innerhalb dessen sich das menschliche Leben vollzieht, und somit als eine konstitutive Dimension des eigenen Seins und Werdens zu betrachten.

      Die drängende Frage, die sich angesichts der ökologischen Katastrophe stellt, lautet: Sind wir wirklich Beherrscher der Natur, oder sind wir nicht vielmehr Teil der weiter gefassten Familie Natur, die es zu achten gilt? Gehören uns die Regenwälder wirklich, und dürfen wir sie deshalb abholzen und brandroden, oder bilden sie nicht vielmehr das Heim unzähliger Pflanzen und Tiere und sind ein Teil jener Erde, zu der auch wir gehören? Ist die Erde »unsere« Welt, unser »Heimatplanet«, oder sind wir nicht lediglich Gäste, die als Letzte in diese uns so geduldig und offenherzig empfangende Wirklichkeit eingedrungen sind? Auf diese Fragen gibt uns die Enzyklika Laudato si’ im vierten Kapitel, unter der Überschrift »Eine ganzheitliche Ökologie« (Abschnitte 137–162), klar und deutlich Antwort. »Wenn man von ›Umwelt‹ spricht, weist man insbesondere auf die gegebene Beziehung zwischen der Natur und der Gesellschaft hin, die sie bewohnt. Das hindert uns daran, die Natur als etwas von uns Verschiedenes oder als einen schlichten Rahmen unseres Lebens zu verstehen. Wir sind in sie eingeschlossen, sind ein Teil von ihr und leben mit ihr in wechselseitiger Durchdringung. […] Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise.« (Laudato si’, 139) Wenn das »In-der-Welt-Sein« konstitutiv ist für den Menschen, so folgt daraus, dass seine Entwicklung auch von dem richtigen Verhältnis abhängt, das er mit der Natur herstellt, der nämlich eine eigene Ordnung innewohnt, basierend auf der besonderen Struktur der verschiedenen Arten von Lebewesen, aus denen sie besteht, und auf der wechselseitigen Verbindung zwischen diesen. Wir sind also dazu aufgefordert, zu einer Harmonie mit der Erde zurückzukehren und dabei dem postindustriellen Kontext, in dem wir uns befinden, Rechnung zu tragen, ohne in eine unangemessene »Naturverklärung« zu verfallen, aber auch ohne den verantwortungslosen Raubbau an der Umwelt zuzulassen. Die globale Dimension der ganzheitlichen Ökologie erfordert einen neuen Umgang mit diesen Problemen und auch eine neue Form des Denkens: eine neue Episteme, eine genaue und umfassende Art des Wissens.

      Andererseits darf die ethische Dimension nicht allein auf positiven Gefühlen oder ehrlichen persönlichen Überzeugungen fußen, die zwar eine notwendige Voraussetzung bilden, aber darüber hinaus ist ein realistischer Blick auf das historische Geschehen und das Bewusstsein für die ständigen Gefahren und überraschenden Wendungen wichtig, zu denen es durch die unvorhersagbaren Verflechtungen menschlicher Beziehungen kommt. Die ethische Vernunft kann im Übrigen nur dann eine vermittelnde und Einheit stiftende Rolle übernehmen, wenn es ihr gelingt, Werte und moralische Normen effektiv zu


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