Auf dem hohen Berg. Stefan König

Auf dem hohen Berg - Stefan König


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Einer der Männer trug auf seiner Kraxe eine mit Leinen überdeckte Vogelvoliere. Zwei Zierfinken wurden durch das Tuch gegen Kälte und Zugluft geschützt, aber auch vor allzu großen Aufregungen, die eine solche Bergtour für sie bringen würde und die ihre winzig kleinen Herzen vielleicht nicht auszuhalten vermochten.

      Es war der Wunsch seines Vorgesetzten gewesen, die Vögel mitzunehmen. Das sei gut gegen die Einsamkeit, hatte er gemeint. »Beobachten Sie die Tiere«, hatte er gesagt. »Achten Sie auf ihr Verhalten, wenn starke Wetterwechsel bevorstehen. Ich bin mir ganz sicher, Straub, dass selbst diese gezüchteten Ziervögel noch über hinreichend Instinkt verfügen und wir noch was lernen können von ihnen …«

      Der Aufstieg zur Knorrhütte war mühsam. In steilen Serpentinen wand sich der Steig zwischen hingeduckten Krüppelkiefern und ausgewaschenem Kalkgestein empor. Die Maultiere gingen in stoischer Gelassenheit, wiegten dabei ihre Lasten hin und her, schienen vor der zunehmenden Tiefe keinerlei Angst zu haben.

      Die Männer wischten sich mit ihren schmutzigen Sacktüchern immer wieder die Stirn. Trotz der Frische des Spätherbstes war der steile Aufstieg dazu angetan, ihnen den Schweiß aus den Poren zu treiben.

      Bei einer kurzen Rast im Stehen nutzte Straub die Gelegenheit, zurückzublicken.

      Der Reinthalanger lag weit unter ihnen, winzig die Hütte, in der sie die Nacht verbracht hatten. Gewaltige Felsberge standen dem Tal Spalier. Still und einsam lag es da, keine Menschenseele war unterwegs. Außer ihnen natürlich.

      Sie waren viele Stunden in dieses Tal hineinmarschiert, hatten die Zivilisation völlig hinter sich gelassen. Von Garmisch und von Partenkirchen war kein Hausdach und kein Kirchturm mehr zu sehen. Sie befanden sich inmitten einer hochalpinen Wildnis. Mochten auch im Sommer hier die Bergsteiger unterwegs sein, auf den Steigen hinauf zur Zugspitze die meisten, die Verwegeneren von ihnen aber auch in den felsigen Wänden und oben auf den schmalen Graten, so herrschte nun, so kurz vor dem unvermeidlich bevorstehenden Wintereinbruch, vor allem das Gefühl völliger Weltabgeschiedenheit.

      Alles war leer jetzt. Die Berghütten unbewirtet und ohne Besucher. Die Wände und die Grate vereinsamt. Die Schluchten und Täler bereit zum Winterschlaf. Wie schon in der Nacht, überkam ihn jetzt die Furcht vor der langen Zeit, die vor ihm lag.

      Ludwig hat das gemocht, dachte Straub. Ihn scheint dieses Alleineinsein erfreut zu haben. Fort von der Stadt, fort von der Politik, fort von den Regierungsgeschäften.

      Irgendwo, da draußen im Norden, rechterhand auf einer Anhöhe, musste ja das Königshaus stehen. Ein hoher Thron über dem Reinthal. Fürstlich und spartanisch zugleich.

      Es waren schöne Tage, an die Straub sich gern erinnerte. Im Frühsommer vor drei Jahren. Oder waren es vier? Jedenfalls ausgesprochen schöne Tage.

      Er musste sich losreißen, musste an etwas anderes denken. Das Gefühl der Verlorenheit, das in ihm wie eine böse Kälte aufstieg, musste er verscheuchen.

      Doppelt energisch schritt er nun aus, gab einem Muli im Vorbeigehen einen Klaps, versuchte bei der Rast an der winterfest gemachten Knorr­hütte mit den wortkargen Männern wenigstens ein bisschen ins Gespräch zu kommen, und ließ sich dann auch von der Wüste aus Geröll, Sand, Stein und Schnee, über die ihr Weiterweg führte, nicht mehr ins Bockshorn jagen.

      Er hatte seine Entscheidung getroffen, gegen so manchen Rat wohlmeinender Freunde. Er hatte sich entschieden, wie ein dem Schweigegelübde verpflichteter Mönch für Monate allein und in Abgeschiedenheit zu leben.

      Jetzt war es so weit. Auch wenn er noch in Begleitung von Dengg und den anderen Männern war, so handelte es sich doch nur mehr um knappe zwei Tage, ehe er ganz auf sich gestellt sein würde.

      Ich bin bereit, dachte er. Und wie zur Bekräftigung sagte er es sich auch noch leise vor: »Ich bin bereit!«

      Kapitel 2

      Bei Frau von Berneis, Witwe des ehemals im ganzen Reich bekannten und angesehenen Großkaufmannes Fritz von Berneis – Hauptsitz in Dresden, Dependancen in Hamburg, Prag und Wien – begann wieder jene Unruhe, die in gewisser Regelmäßigkeit von ihr Besitz ergriff.

      Nicht etwa, dass sie ansonsten als ruhig oder gar besonders ausgeglichen zu bezeichnen gewesen wäre. Weit gefehlt! Sie hatte das Temperament ihrer argentinischen Mutter geerbt – und dazu die Sturheit ihres Vaters, der beharrlich, verbissen und rücksichtslos gegen andere wie gegen sich selbst eine kleine Reederei in Warnemünde zu einigem Erfolg gebracht hatte.

      Als ihr Gemahl starb – vor nunmehr fast sieben Jahren – da war sie gerade erst fünfunddreißig. Er hinterließ ihr ein enormes Vermögen, eine herrschaftliche Villa samt Personal an den Elbwiesen östlich der Stadt Dresden und, wie es schien, jede Menge Langeweile. Die Ehe war ja kinderlos geblieben. Die Ärzte hatten nie herausfinden können, woran es lag. Ob sie unfruchtbar war? Ob er mit seinen mehr als sechzig Jahren nicht mehr zeugungsfähig war? Aber, ich bitte Sie, Herr von Berneis, Sie sind doch in den allerbesten Jahren. Vielleicht, so vermutete einer der zu Rate gezogenen Spezialisten, vertrugen sich einfach ihre Säfte nicht wie es erforderlich wäre, um das harrende Ei zu befruchten.

      Die Firma war an den Bruder gegangen, und das war ihr nur Recht gewesen. Sie wollte mit alldem auch gar nichts zu tun haben. Aber, was wollte sie tun?

      Es war ihr unruhiges Gemüt, das ihr die Entscheidung, fortan einen ganz erheblichen Teil des Jahres auf Reisen zu verbringen, leicht machte. So besah sie sich die großen Städte Spaniens, war in Madrid und Barcelona, in Malaga und Sevilla. Sie verbrachte Wochen in Rom, in der Toskana und, von der Spiritualität des Ortes tief beeindruckt, am Fuße des umbrischen Monte Subasio, wo der heilige Franz von Assisi gewirkt hatte. Sie fuhr mit dem Schiff auf dem Rhein von der Schweiz bis nach Holland, ohne je das Verlangen zu haben, irgendwo zu bleiben. Am ehesten noch stellte sich dieses Empfinden ein, wenn sie in den Bergen war, tief im südlichsten Bayern, im sogenannten Werdenfelser Land.

      Noch zu Lebzeiten ihres Mannes war es üblich, einmal im Jahr nach Partenkirchen zu reisen und dort, in der heimeligen Villa Alpenblick, zwei oder drei Wochen zur Sommerfrische zu residieren.

      Oh, es gab mondäne Hotels in Partenkirchen und im Nachbarort Garmisch. Es gab Kurhäuser und Residenzen. Aber ihr Gemahl bevorzugte zumindest während dieses Erholungsaufenthaltes einen etwas reduzierten Komfort, ein etwas weniger öffentliches Leben. Zu gut Deutsch: Er wollte seine Ruhe haben. Was er so ähnlich gern auch zum Ausdruck brachte: »Weißt du, meine Liebe«, pflegte er zu sagen, »ich bin so froh, endlich mal meinen Frieden zu haben.«

      Auch nach seinem überraschenden Tod hatte Frau von Berneis – Lidia, wie sie mit vollem Namen hieß, oder, noch genauer gesagt: Lidia Anna Mercedes – die Tradition der Alpenreise an den Fuß des wuchtigen Zugspitzmassivs fortgesetzt. Sie mochte diese Berge, denn sie waren wie der geahnte Hauch einer Erinnerung an die argentinischen Anden und, vielleicht mehr noch, an die Felstürme des patagonischen Hochlandes, das sie, als Kind noch, bei einer weiten Reise mit Eltern und Hauspersonal zu sehen bekommen hatte.

      Als ihr Gemahl noch lebte, hatten sie sich manchmal einen heimischen Bergführer engagiert und waren in das Wettersteingebirge vorgedrungen. Nicht auf die kühnen Gipfel! Das wäre Herrn von Berneis nun doch zuviel gewesen. Zu mühsam und letztlich auch zu gefährlich. Sie, die junge Gemahlin, wäre freilich schon gerne so wo hinauf, um alles einmal von oben zu sehen.

      Aber es hatte nicht sollen sein. Der Führer hatte sie zum Schachen geführt, durch die Höllenthalklamm zur Hütte und aus dem Höllenthal heraus übers Kreuzeck, einmal auch durch die Partnachklamm und über den »Bauern am Eck« und das Bergbauernnest Wamberg wieder hinab nach Partenkirchen. Alles schön, alles faszinierend – aber das besondere Prickeln, diese Momente der Spannung fehlten doch fast völlig.

      Seit sie allein hierher kam, hatte sie sich keinen Bergführer mehr genommen. Sie erachtete es als unschicklich. Und außerdem hätte sie sich nicht wohlgefühlt in der alleinigen Begleitung eines solch grobschlächtigen Menschen. Sie hatte kleinere touristische Ausflüge auf eigene Faust unternommen, war vor allem dort wieder entlanggewandert, wo sie mit Mann und Führer vor Jahren schon gewesen war, hatte


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