Auf dem hohen Berg. Stefan König

Auf dem hohen Berg - Stefan König


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sich, der Sonne, dem Wind, den Düften des Waldes und ihren Träumen, die Welt ganz tief begreifen zu können.

      An ruhigeren Tagen wie dem heutigen genoss sie das Frühstück in der Villa. Durch die Fensterscheiben wärmte selbst die Herbstsonne noch sehr angenehm. Und Lidia von Berneis gab sich der Muße hin, im Loisachboten nicht nur Neues aus aller Welt zu lesen, sondern auch »Vermischtes« aus dem Leben und der Gesellschaft in der Provinz.

      Danach rüstete sie sich für einen ausgiebigen Spaziergang. Wie so oft, ganz ohne eigentliches Ziel. Sie schlenderte durch die Ludwigstraße mit den Geschäften und den paar Wirtshäusern zur Rechten und zur Linken, blieb, wie jedes Mal, vor den Auslagen der Buchdruckerei Ostler & Bierprigl stehen, und bog bei der Pfarrkirche in die Ballengasse ein. Sie staunte über die grindigen Bauernhäuser mitten im Ort, über die Kargheit des Lebens, das man den Kindern hier ansehen konnte: Barfuß stapften sie durch Matsch und Kuhdreck, aus ihren Hosen waren sie herausgewachsen, die Jacken saßen zu knapp, und dass ihnen der Rotz aus der Nase hing und allmählich in den Mund lief, das schien niemanden zu kümmern.

      Sie spazierte auf St. Anton zu, ließ das hoch gelegene Wallfahrtskirchlein dann aber sein, machte mehr oder weniger eine Spitzkehre und nahm den gar nicht so kurzen Weg nach dem Nachbarort Garmisch.

      Wie ein Magnet schien der Bahnhof auf sie zu wirken. Er zog ihre Schritte an, sodass sie Partenkirchen verließ und durch abgemähte Wiesen hinüberwanderte, um wenigstens eine Viertelstunde lang den einfahrenden und viel mehr noch den abfahrenden Zügen zuzusehen.

      War es Fernweh? Oder lag es einfach nur daran, dass sie den Dampf, den Rauch und den Ruß der Lokomotiven so liebte?

      Fernweh allein konnte es gar nicht sein. Schließlich fuhren die Züge von Garmisch aus nicht gerade in die große ferne Welt. Hier hielt kein Orient-Express. Nach Murnau fuhren sie. Und nach München.

      Und doch: Sie ertappte sich immer wieder dabei, lustvoller auszuschreiten, je näher sie dem Bahnhofe kam. Sie mochte es, die Fahrpläne zu studieren. Und es machte ihr Freude, jene Menschen zu beobachten, die oft mit viel Gepäck aus den Abteilen stiegen und sich in der neuen Umgebung erst einmal mit gewisser Hilflosigkeit umsahen. Gern besah sie sich die Frauen, ihre üppigen Kleider, ihren Kopfputz und ihre Besorgnis, sich beim Verlassen eines Waggons irgendwo schmutzig zu machen.

      Natürlich hatte sie auch ein heimliches Auge für die Männer, die mit den Zügen ankamen oder abreisten. Die strammen und stolzen und dabei doch in ihrer Eitelkeit unerträglichen Herren Offiziere zum Beispiel. Die Sommerfrischler aus den flachen Regionen des Landes, von denen sich manche den Aufenthalt im Gebirge von der Suppe abgespart hatten. Hin und wieder auch Herren von Stand. Bisweilen erschienen ihr gerade die unfreiwillig komisch. Kaum einer aber entlockte ihr ein zweites Hinsehen, gar den Gedanken, wie so ein Herr wohl ohne sein teures Gewand, ohne die zünftige Lodenhose, ohne das Jägerjackett und ohne den Hut samt prächtiger, steil aufgerichteter Feder aussehen würde.

      Gern sah sie die Bergsteiger, die mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen über den Perron klackerten, pralle Leinenrucksäcke und derbe Hanfseile über den Schultern. Ihre Gesichter und ihre ganzen Erscheinungen legten Zeugnis davon ab, dass diese Welt voller Abenteuer war – man musste nur aufbrechen, hinaus und hinauf.

      Und ganz besonders gern beobachtete sie die Kinder. Wenn sie voller Begeisterung ankamen oder wenn sie beim Losfahren die Gesichter gegen die Scheiben drückten und irgendjemandem winkten. Ja, dachte sie dann, für die Kinder ist alles noch Abenteuer.

      Und dann war sie immer ein wenig traurig, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war.

      Ein Kind wenn ich hätte, dachte sie. Aber sie führte diesen Gedanken nie bis zu einem Ende. Nur einfach: Ein Kind wenn ich hätte …

      Auch heute nicht.

      In melancholischer Stimmung spazierte sie weiter. Die mondänen Quartiere, die in Garmisch entstanden waren, interessierten sie nicht. Das alles hatte sie andernorts bis zum Überdruss genossen. Sie schaute zu den Bergen, die heute nicht ganz klar vor einem milchig bedeckten Himmel standen. Selbst auf den höchsten Gipfeln lag noch kaum Schnee. Die Zugspitze war von Norden her weiß angezuckert, da hatte beim letzten Unwetter Schnee die Felsen verpappt. Aber mehr war es noch nicht. Sie hatte die Berge schon mal im August winterlicher gesehen als nun im vorgerückten Herbst.

      Sie musste daran denken, wie am Tag zuvor der Wetterwart verabschiedet worden war. Ein ganz fescher junger Mann. Die Blasmusik hatte gespielt. Der Bürgermeister von Partenkirchen hatte gesprochen und ein Herr von der Meteorologischen Zentralstation München. Die Reden waren langweilig. Aber die Musik war schmissig. Und wenigstens war überhaupt etwas los.

      Als der Tross losgezogen war, der Wetterwart, der Bergführer, die Träger und ihre Maultiere, da hatte sie die Männer beneidet um den Aufstieg zur Zugspitze. Ja, da wäre sie am liebsten mit. Wie sie überhaupt nur zu gerne einmal auf die Zugspitze, die höchste Erhebung des ganzen Reiches, hinaufgestiegen wäre. Einmal das Land von ganz oben sehen, wo nichts Höheres mehr ist.

      »Wer weiß«, hatte Karl Schaffler, ihr Hauswirt, am Morgen gesagt, »wie lange der Winter noch hinterm Berg hält. Der Himmel … ich weiß net … er macht mir den Eindruck, als wenn der Herbst jetzt bald vorbei wäre.«

      Am frühen Nachmittag trank sie ein Kännchen Tee. Sie konnte dabei windgeschützt auf der Veranda sitzen, wo auch einige andere Gäste der Villa Alpenblick die Sonne des späten Jahres auskosteten.

      Der Blick war herrlich: Das ganze Massiv lag als malerisch ausgebreitetes Gebirgspanorama vis-à-vis: Die formschöne Alpspitze, die hohe Zugspitze, ein markanter, geradezu Ehrfurcht gebietender Anblick.

      »Darf man fragen, gnä Frau, was Sie heut noch vorhaben?«, fragte die immer neugierige, dabei aber gründlich verschwiegene Frau Schaffler.

      Lidia von Berneis hatte gar nichts gegen eine kleine Konversation mit den Hausleuten. Schließlich kannte man sich seit etlichen Jahren. Hierher zu kommen war für sie – und für die Schafflers auch – immer mit einer ehrlichen Wiedersehensfreude verbunden.

      »Ich werde mir nun endlich mal diese Villa Orient ansehen«, gab Lidia lächelnd zurück. »Seit Jahren weiß ich davon, hab oft davon reden gehört. Und jetzt, am Bahnhof, da hing sogar ein Plakat.«

      »Aber was G’scheites ist das nicht«, sagte die Frau Schaffler. »Man hört nicht nur Gutes über den Mann, wenn Sie wissen, was ich meine.«

      »Aber das macht doch nichts«, sagte Lidia mit einem breiten Lächeln. »Es geht ja gar nicht darum, das wirklich ernst zu nehmen. Aber es mag doch immerhin ein wenig unterhaltsam sein. Glauben Sie nicht, liebe Frau Schaffler?«

      »Ich weiß net«, sagte die Hauswirtin. »Ich weiß net. Mir wär’s schad ums Geld. Er verlangt ja doch fünfzig Pfennig Eintritt dafür …«

      »Aber Sie wissen doch: Wer sich nichts gönnt …«

      Aus ihrer kleinen, in Brokatarbeit gefertigten Handtasche zog Lidia eine Postkarte. Vorne drauf war eine Abbildung der Villa Orient zu sehen. Auf der Rückseite pries ein Text die wahrhaft wundersamen Sehenswürdigkeiten und empfahl den Besuch dieses privaten Museums ganz nachdrücklich:

      »Sehr reichhaltige Sammlung fremdländischer Gegenstände, Kostüme verschiedener Nationen, sehr wertvolle Waffensammlung. Seidenstickereien, Musikinstrumente. Geweihe, Holzschnitzereien. Perlmutteinlagen. Muschelarbeiten. Indische Götzen und Götzentempel. Großartige Käfer- und Schmetterlingssammlung. Mehrere hundert ausgestopfte und präparierte fremdländische Tiere. Reptilien in Spiritus. Völkergalerie (zwanzig verschiedene Menschenrassen in Wachs). Mumien. Lebende Leoparden, lebende Schlangen, lebende Affen. Jeder Besucher wird überrascht sein …«

      Sie steckte die Karte wieder weg und sagte: »Ich schau mir das an.«

      Und so schlenderte sie dann am Nachmittag unter rost- und gelbfarbenen Bäumen ins sogenannte Hasenthal und zur schon von weitem überaus ungewöhnlich wirkenden Villa Orient. Dabei wäre diese Anmutung mit orientalisch gar nicht so richtig beschrieben gewesen. Eine Skurrilität war es, ja, genau. Eine Mischung aus kindlicher Märchenwelt und exotischem Sammelsurium. Ein maurischer Turm, angelehnt an eine umgebaute


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